Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Einwandererfamilien warteten hier auf ihre Abfertigung. Es gab Barrieren aus Metall, um
die Massen zu lenken. Es gab einen Raum, in dem die Gepäckstücke untersucht wurden. Alles ging sehr schnell. Dann wurde man zurück in die große Halle geschickt.
Längst waren die Gesichter, mit denen ich die letzten vierzehn Tage auf der Hyperion verbracht hatte, von der Masse verschluckt worden.
Im ersten Stock, so verkündete jemand, hatte man die Möglichkeit, die Gepäckstücke aufzugeben. Sie würden an ihren Bestimmungsort versendet, versprachen Schilder und Bedienstete gleichermaßen. Nichtsdestotrotz hatten viele von uns Angst, ihre Habseligkeiten nie wiederzusehen. Und so blieben die meisten Menschen mit ihren Koffern und Taschen in der großen Halle stehen.
Und warteten.
Weiter und weiter.
Zehntausend Immigranten, munkelte man, wurden jeden Tag durch Ellis Island geschleust. An diesem Morgen war ich einer von ihnen. Frauen, Männer, Kinder, alle mit dem verträumten Glanz der zweiten Geburt in den Augen. Alle hofften sie auf ein neues Leben.
Ach, kleine Scarlet, wie ein Traum erscheinen mir diese Stunden auch jetzt noch. Wie Bilder, die sich nahtlos aneinanderfügen. So viele Dinge passierten auf einmal, dass ich gar keine Zeit hatte, darüber nachzudenken.
Ein Mann heftete eine Nummer an meinen Mantel, und ich musste mich in eine lange Reihe eingliedern, die aus der großen Halle herausführte. Mürrische Beamte der Einwanderungsbehörde trieben die Leute zur Eile an. Anordnungen wurden in den verschiedensten Sprachen gebrüllt. Der Gedanke, dass dies Tag für Tag geschah, nahm mir den Mut. Es gab Fragebögen, die man ausfüllen musste, und unzählige
Formalitäten, die zu erledigen waren, eine überflüssiger und unsinniger als die ihr folgende. Die Menschen wurden einzeln und als Familien zusammengetrieben, planmäßig geordnet, aufgeteilt und sortiert. Es war eine Uhr, die niemals zu ticken aufhörte.
Dann kamen die Ärzte.
Ungeduldige Männer in weißen Kitteln, Männer ohne Lächeln, die alt und ungerecht aussahen, Männer, die Menschen im Bruchteil von wenigen Sekunden untersuchten und ihr Urteil fällten.
Oft genügte nur ein einziger Blick, um die Diagnose zu stellen und über das weitere Schicksal eines Menschen oder einer ganzen Familie zu entscheiden. Polygamisten und Mittellose, Kriminelle, Geistesgestörte, Herzkranke sowie Menschen mit einer körperlichen Behinderung – sie alle wurden abgewiesen. Man führte sie schnell in einen Nebenraum, wo sie gekennzeichnet wurden. L stand für Behinderung, H für Herzkrankheit, EC gab es bei Augenproblemen und ein X bei Verdacht auf Geisteskrankheit. Alle fürchteten die Untersuchung bezüglich eines Trachoms, einer Infektion der Augen, die man nicht heilen konnte. Wer Anzeichen erkennen ließ, wurde umgehend nach Hause geschickt, ungeachtet des Alters oder der familiären Situation.
Ganze Familien wurden auseinandergerissen. Man sah schreiende Menschen, die weinten. Hände, die einander zugereckt wurden. Kleine Kinder, die ihre Eltern verloren.
Wenn es eine Hölle gibt, dann existierte sie dort.
Und damit war es noch nicht vorbei.
Hatte man die Ärzte überstanden, so gelangte man in die Registrierungshalle, wo die letzten Befragungen durchgeführt wurden.
Name und Geburtsort, angestrebter Zielort und erlernter Beruf, Höhe des mitgeführten Bargelds. Niemand machte sich Gedanken um die Schicksale hinter den Gesichtern, dafür waren es viel zu viele Einwanderer.
Wer es bis hierher geschafft hatte, der konnte sich zu den Glücklichen zählen.
Keiner der mürrischen Beamten, in deren Mündern manchmal pechschwarze Insektenbeine zuckten, machte sich die Mühe, die Angaben, die man machte, zu überprüfen. Es wurde lediglich bestätigt, was die Schiffspapiere aussagten. Hatte man dort einen Namen angegeben, so musste dieser nur noch registriert werden.
Ich hatte meinen alten Namen abgelegt.
Die glückliche Rima, die Mortimer geliebt hatte, war in London gestorben.
Sie war tot, und der Sarg, in den man sie gebettet hatte, hatte schon längst die Leinen gelöst und fuhr hinüber nach Manna-hata .
Ich stand vor dem Beamten und nannte ihm meinen Namen.
Rima Hawthorne.
Dieser Name stand in den Papieren.
Das war der Name, den ich fortan tragen würde.
Vor gerade einmal zwei Wochen hatte mir Mortimer in Hampstead Manor eine kurze Geschichte des amerikanischen Schriftstellers Nathaniel Hawthorne vorgelesen: Der Schöpfer des Schönen . Ich verband
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