Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
dicht an der Reling, und staunen, wie all die anderen es auch tun.
Du hast dich eben bewegt, kleine Scarlet. Als wüsstest du, dass wir da sind.
Gestern war ich in der Hölle.
Die Hyperion steuerte am frühen Morgen die Insel vor der riesigen Stadt an. Wir standen alle an Deck und bestaunten die Silhouette, die sich uns darbot. Die gewaltigen Brücken und die Häuser, die höher waren als alles, was man jemals in der Alten Welt gesehen hatte. Höher noch als Kathedralen.
Das ganze Schiff, Passagiere und Besatzung gleichermaßen, drängte an Deck, um Lady Liberty zu sehen, die majestätisch an uns vorbeizog. Hoch reckte sie die Fackel dem Himmel entgegen, und anmutig ließ sie alle Schiffe vorbeiziehen. In den Gesichtern der Menschen erkannte man das Licht, das von dieser eleganten Dame aus weißem Stein ausging. Das, wovon alle geträumt hatten, wurde nun zur Gewissheit.
Wir waren in Amerika.
Wir hatten es tatsächlich geschafft.
Nach all den Strapazen der Reise waren wir schlussendlich doch noch hier angekommen. Und was immer uns erwarten würde, es konnte nur gut sein. Dinge klärten sich. Ich wusste, dass ich die Menschen, mit denen ich die letzten vierzehn Tage verbracht hatte, nie wiedersehen würde. Keiner würde zurückschauen. Jeder würde seinen Weg gehen. Das Licht der Lady Liberty schien für alle, die es in ihr Herz ließen.
Und dann …
Dann steuerten wir auf die Insel zu.
Allein schon ihr Name war Legende. Sie war der Ort, der wie ein Orakel war, der Platz, an dem sich Schicksale erfüllten.
Furchtsam hatten die Passagiere ihren Namen geflüstert und die Blicke niedergeschlagen, weil niemand wirklich darüber reden wollte. Alle wussten, dass ihr neues Leben hier beginnen oder enden würde. Alle hatten Angst. Ich auch.
Langsam kam die Insel näher.
Das Schiff ging längsseits.
Und ich stand mit all den anderen an Deck, den Koffer, der ein ganzes Leben oder das, was davon geblieben war, enthielt, in meiner Hand. Ich konnte den Blick nicht lösen von dem, was dort war.
Ellis Island.
Das, was sich dort drüben, keinen Steinwurf mehr von uns entfernt befand, sah eher aus wie eine eigene Stadt, eine gewaltige Bastion des noch gewaltigeren New York.
Dies war also der Ort, an dem sich alle Einwanderer einfinden mussten.
Das große Gebäude mit den vier Türmen und den Kuppeln erinnerte mich an den Tower von London. Früher, so erzählte man sich, war dies ein Munitionslager gewesen, doch seit sechs Jahren befand sich dort die Einwanderungsbehörde von Gotham. Es gab unzählige Gebäude, ein eigenes Kraftwerk, eine eigene Polizei- und Feuerwehrstation, Schlafsäle mit Tausenden von Betten, viele Wäschereien und Großküchen. Mehr als eine Million neuer Einwanderer konnten dort untersucht werden. Alle Tests wurden in den ehrfurchtgebietenden Gebäuden durchgeführt. Dies war der Ort, der Schicksal spielte.
Eine ungeheuere Anspannung lag in der Luft.
An Bord war allzeit darüber spekuliert worden, wie die Untersuchungen wohl aussehen mochten. Jeder hatte Angst, dass er zurückgeschickt würde. In jedermanns Gesicht spiegelte
sich die Furcht vor dem endgültigen Urteil des behandelnden Arztes. Jedermann wusste, wie mächtig die Bürokratie war.
Die Hyperion legte am Pier an.
Und die Odyssee begann.
Nach der überaus erschöpfenden Schiffsreise, die ich im Gegensatz zu manch anderem Passagier bei nahezu guter Gesundheit überstanden hatte, wurde man nach dem hektischen Ausschiffen, das als ungeheuer entwürdigendes Gedränge zu bezeichnen noch ein Kompliment an die Disziplin der Menschen gewesen wäre, zum Hauptgebäude geleitet. Hunderte von erschöpften Immigranten warteten bereits mit ausgemergelten Gesichtern und ihren wenigen Habseligkeiten, die ausnahmslos in einen einzigen Koffer hineinpassten, in einer schier endlos erscheinenden Schlange unter dem Schutzdach vor dem Haupteingang.
Sie warteten und warteten, alle warteten sie auf den Einlass in den Komplex.
Mir schwindelte oft, aber ich wusste, dass ich jetzt keine Schwäche zeigen durfte.
Ach, kleine Scarlet, ich spürte dich so sehr in mir. Du warst ganz unruhig, als könntest Du spüren, wie es um mich bestellt war. Mir war übel, und mein Herz war vor Aufregung in einem Trommelwirbel gefangen.
Ja, so warteten wir.
Nur langsam ging es voran.
Es mag einige Stunden gedauert haben, bis ich endlich das Gebäude und die große Halle betrat.
Überall waren Menschen, das Stimmengewirr war ohrenbetäubend. Hunderte von
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