Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
wir uns berührten. Sie tauchte die Welt um uns herum und uns selbst darin in Farben, die scharlachrot waren, so wild und verrückt wie unsere Herzen, die gegen jede Vernunft das taten, was ihre Bestimmung war.
Wenn die Eltern eine solche Aura beschwören können, dann leuchtet diese in ihren Kindern fort. Die Kinder, so sagt man, atmen die Aura der Eltern. Und ich weiß, dass Deine Aura, mein kleines Mädchen, scharlachrot sein wird. So glühend wie das, was mir ein Leben lang fehlen wird.
Deswegen bist du Scarlet.
Meine kleine Scarlet.
Scarlet Hawthorne.
Das ist der Name, den ich gewählt habe.
Er wird mich nicht mehr an London erinnern und jene, die uns folgen mögen, hoffentlich verwirren.
Der Name, den ich all die Jahre getragen habe, wird bedeutungslos sein. Er wird sterben, wie mein altes Leben schon gestorben ist.
So wird es sein.
Kleine Scarlet.
Tage sind vergangen seit meinem letzten Eintrag.
Ich bin eben keine eifrige Schreiberin. Und die Tage an Bord lassen die Zeit unwichtig werden. Unendlich lang sind die Stunden, die man nur mit Warten füllen kann. Warten darauf, dass es Abend wird. Warten darauf, dass es Morgen wird. Warten darauf, dass das Warten endet.
Die Geräusche verändern sich, wenn die Meerestiefe sich verändert. Ich kann es hören, jeden Tag ein wenig mehr. Die Tonlage der See wird tiefer, je weiter England in die Ferne rückt. An der Tiefe seiner Stimme erkenne ich die Tiefe des Ozeans.
Stimmen wispern mir zu, wenn ich auf der dreckigen Matratze liege, und sie beschwören die Bilder herauf, die ich eigentlich vergessen will. Mortimer und Salem House, Maurice
Micklewhite und der alte Raritätenladen, die Momente der Zweisamkeit, die nie mehr wiederkehren werden. Berührungen, die nie mehr da sein werden.
Mein Verstand findet sich damit ab, mein Herz niemals.
Gibt es Zufälle?
Oder Schicksal?
Er würde das Kind und mich retten können, doch nur dann, wenn jemand den Preis zu zahlen bereit wäre. Das sagte der Shah-Saz vom Brick Lane Market, wo Micklewhite uns hinbrachte, als alles verloren schien. Der Shah-Saz, dieser Mann mit seinem Hokuspokus. Sein verfilzter Bart sah aus wie Zuckerwatte, und selbst aus der krummen Nase und den Ohren wuchsen ihm buschige Haare heraus wie Gras.
»Du wirst leben«, sagte Mortimer.
Ich wollte es nicht. Ich wollte lieber sterben, als ohne ihn zu leben. Doch die Dinge geschehen manchmal ohne unser Zutun.
Ich könnte schreien!
Verzweiflung tut weh.
Sehnsucht auch.
Aber ich muss stark sein.
Ich habe Geschichten von Ellis Island gehört. Die Schwachen werden zurückgeschickt, sagt man. Ja, mein Kind, ich muss wohl stark sein.
New York.
Was wird uns dort erwarten?
Das Schiff ist vollgepfercht mit Menschen, die alle ihren Traum suchen und fest darauf hoffen, ihn dort zu finden. Ach, so viele Träume sind es, die alle nicht in Erfüllung gehen werden. Sie erzählen sich Geschichten von New York,
von den Häusern, die höher sein sollen als alles, was man in England je gesehen hat. Sie erzählen vom Westen, von weitem Land, wo jedermann sich niederlassen kann. Sie machen sich Mut, indem sie sich all diese Geschichten erzählen. Sie müssen die Zeit füllen, die ihnen an Bord bleibt.
Ich selbst will nur vergessen.
Sagt man nicht, dass die Zeit alte Wunden zu heilen vermag? Nein, ich will das nicht glauben. Ich kann es nicht.
Die Tage verbringe ich damit, an Bord umherzuwandern. Schlechtes Wetter muss man unter Deck abwarten, in den Kabinen, die sich viel zu viele Menschen teilen. Es stinkt nach menschlichen Ausdünstungen, und die Stimmen der anderen schleichen sich in die eigenen Gedanken und lassen einen nicht einmal mehr in den Träumen allein.
Man ist einander ausgeliefert.
Wir sind acht.
Wir teilen uns eine Kabine, deren Wände man mit den Armen berühren kann, wenn man in der Mitte des Raumes steht.
Wir schlafen übereinander, wie Vieh, in Kojen gepfercht, die eng sind wie Särge.
Jeder sehnt die Ankunft herbei. Jeder will diesem schaukelnden Ort entrinnen. Jeder will wieder Luft zum Atmen haben. Jeder will, dass es endlich vorüber ist.
Sieben Tage liegen noch vor uns, wenn das Wetter gut ist. Acht, wenn nicht. Hoffentlich nicht mehr.
Es ist so weit. Vierzehn Tage auf hoher See, eingepfercht in den Schiffsbauch der Hyperion , nähern sich dem Ende. Vor uns taucht der Hafen von New York aus dem Nebel auf. Es ist so, wie es sich die meisten ausgemalt haben. Ich kann jetzt
nicht schreiben. Ich kann nur dastehen,
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