Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
darf nur noch nach vorn schauen, über die Weiten des Atlantiks, bis in die Neue Welt, wohin mich dieses alte Schiff bringen wird.
Und Du?
Sie wollten Dich töten.
Sie lauerten mir auf, weil es Trickstern verboten ist, Kinder zu bekommen. Doch jetzt schlägt dein Herz genau da, wo es schlagen soll. Du wirst leben, doch der Preis, den wir dafür zahlen mussten, war so hoch, ach, so hoch. Die Welt ist so gierig, mein Kind, und wenn man nicht aufpasst, dann verschlingt sie Kinder mit Haut und Haaren.
Ich werde Lapislazuli niemals wiedersehen.
Du wirst ihn auch nie sehen.
Tun wir es doch, werden wir alle sterben.
Er, Du, ich ebenfalls.
Ja, das war der Preis, den wir dem uralten Shah-Saz zahlen mussten, damit seine Magie uns das Leben schenkte. Wir würden leben, aber jeder allein. Aber, nein, kleines Ding, das ist nicht richtig. Ich habe ja Dich. In knapp sechs Monaten werde ich Dich im Arm halten können.
Doch bis dahin …
Ich hoffe, dass der Mut mich nicht verlässt. So viel liegt vor mir. Und ich bin allein.
Die anderen auf dem Schiff harren alle ihrer eigenen Träume.
Die Kabinen sind überfüllt, es stinkt schrecklich nach allem, was Menschen vergänglich macht. Nur oben an Deck kann man es aushalten, nur dort kann man atmen.
Oh, kleines Mädchen, wir hätten es wissen müssen. Wir hatten uns so lange schon versteckt.
Niemand in Salem House durfte erfahren, dass wir ein Paar waren. Es war uns verboten. Bis heute verstehe ich nicht wirklich, warum es uns verboten war, aber das, was sie uns anzutun versuchten, zeigt doch, wie ernst es ihnen mit diesem
Verbot war. Sie waren bereit, dafür zu töten. Sie lauerten mir auf, an diesem verfluchten Abend, sie lauerten mir auf wie Wegelagerer, wie Gesindel, in der Westmorelandstreet. Es waren ehemalige Schüler von Salem House. Sie schleppten mich in einen Hinterhof und hielten mich fest, und einer von den beiden legte seine Hände auf meinen Bauch. Er machte etwas, und es tat weh. Sie waren Trickster und taten, wozu sie fähig waren. Dann spürte ich Dich nicht mehr, kleines Mädchen. Ich weinte, und in meiner Angst verbrannte ich sie. Ja, sie verbrannten lichterloh, denn das ist es, was ich tun kann. Deswegen war ich in Salem House. Ich bin eine Trickster, wie auch Dein Vater.
Willst Du nicht seinen Namen erfahren?
Ja?
Ich werde ihn Dir zuflüstern wie ein süßes Geheimnis, das nur uns beiden gehört. Mortimer, das ist sein Name. Andere Namen sind nicht wichtig. Nur dieser.
Mortimer.
Aber ich habe ihn immer nur Lapislazuli genannt.
Mortimer war der Name, bei dem ihn die Ratte gerufen hatte.
Ach, kleines Mädchen, es gibt so vieles zu berichten.
Wie soll ich Dir nur jemals all die Dinge nahebringen, die ich doch selbst kaum verstehe? Ich weiß ja nicht einmal, ob ich diese Fahrt überleben werde. Vielleicht sind andere Trickster an Bord, die meinen Tod herbeisehen? Maurice Micklewhite hielt mich an, einen anderen Namen zu wählen.
Ich habe Angst, mein Kind.
Die Feder kratzt auf dem Papier.
Ich war nie jemand, der viel geschrieben hat oder mit seinen Worten zu spielen wusste.
Ich habe die Pflanzen geliebt, musst Du wissen. Ich war glücklich, wenn ich meine Hände in der feuchten Erde vergraben konnte, wenn sie Wurzeln berührten und Blätter ertasteten. Mortimer war jemand, dessen Mund nie stillstand. Er redete pausenlos, während ich mich um die Pflanzen in der Schule kümmerte, er redete und redete und glaubte doch, ein zutiefst schweigsamer Mensch zu sein.
Ich weiß nicht, ob ich diese Aufzeichnungen fortführen werde.
Jetzt tut es gut, die Gedanken niederzuschreiben. Aber ob ich es noch tun werde, wenn mein neues Leben beginnt?
Wie das schon klingt: mein neues Leben. Das Leben hat doch, so scheint es, alle Farbe verloren. Die anderen Passagiere munkeln, dass man in die Matratzen, auf denen wir schlafen, die Kleidungsstücke ertrunkener Mädchen hineingestopft hat. Man erzählt sich viele schlimme Dinge und so wenig gute Dinge. Man hört an Bord andauernd seltsame Geschichten von der Neuen Welt, die entweder dem Paradies oder der Hölle nahekommen soll.
Ich bin müde. Schluss für heute.
Wenn sich zwei Menschen ganz wahrhaftig und aufrichtig lieben, dann ist die Aura, die sie umgibt, ein scharlachrotes Leuchten. Lapislazuli hat sie mir gezeigt, diese Aura. Ich habe gesehen, wie wir mitten in ihr standen, wie sie uns umgab. Sie war ein Schein, ein sanftes Glühen, immer dann, wenn wir nur beisammen waren, und ein tiefrotes Feuer, wenn
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