Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
keine Elfe ist, sondern eine feine Dame aus Boston, war, glaube ich, recht angetan von meiner offenen Art. Sie erwähnte mehrmals mit Stolz, dass dies nicht London sei. New York sei eine freie Stadt, das Tor zu einem freien Land. Staten Island sei ein Paradies, weil es hier
aussähe wie auf dem Lande. Sie redete unentwegt, was mir einen großen Teil meiner Angst nahm. Viele der alten elfischen Familien, die hier lebten, hätten sich noch immer die überheblichen Ansichten der Alten Welt bewahrt. Eine Familie, die sie kenne, habe sogar kürzlich ihre einzige Tochter verstoßen, und das nur, weil sie sich mit einem einfachen Arbeiter abgebe. An dieser Stelle schüttelte sie missbilligend den Kopf. Und dann nahm sie mich in die Arme.
Ich glaube, wir haben ein neues Zuhause.
Die Menschen hier sind so anders als die in London.
Alles kommt einem viel freier vor.
Es gibt keine Regentin.
Der Duke von Manna-hata vertritt die Belange der Stadt in Washington.
Heute stieg ich zum ersten Mal hinab in die uralte Metropole. Sie ist so anders als die Stadt unter der Stadt, wie ich sie aus London kenne. Es gibt hier keine Engel, das fiel mir sofort auf. In London traf man sie manchmal in den Straßen. Sie musizierten auf alten Instrumenten.
In Amerika aber gibt es keine Engel.
Mrs. Micklewhite erlaubte mir, eine der Dienstbotinnen zu begleiten.
Tabitha ist sehr nett.
Sie erzählte mir von ihren Vorfahren, die auf Sklavenschiffen in den Süden gebracht worden waren. Schlimme Dinge trugen sich dort zu, und ich musste an die grässlichen Whitechapel-Aufstände denken. Dann kam es auch hier zu einem großen Bürgerkrieg, und jetzt sind alle Menschen frei.
Tabitha wurde in New York geboren. Die Micklewhites haben sie seit vier Jahren schon in ihren Diensten.
Einmal in der Woche muss sie Besorgungen in der uralten Metropole von Gotham machen.
Wir gingen an einen exotischen Ort, der Shadow Sailor’s Snug Harbor heißt und jenseits der weiten Windmühlenfelder liegt. Dort, tief unter dem Staten Island, das wir kennen, legen die schlanken Schiffe an, die sich auf den fremden Meeren bewegen, von denen ich noch nie zuvor gehört habe, nicht einmal in Salem House. Fische mit bunten Schuppen und Kraken mit Muschelaugen werden dort unten angeboten und verkauft. Es ist eine Welt, in der Tunnelstreicher und Maulwurfsmenschen in Harmonie leben, wo blinde Pferde schwere Karren ziehen und einige indianische Götter ihre Tage verbringen.
Tabitha zeigte mir alles und erklärte mir die Welt, in die Du hineingeboren wirst.
Bald ist es so weit.
Ich spüre Deine Tritte jeden Tag mehr.
Sie werden fester. Wie auch die Schmerzen stärker werden.
Welch wunderbarer Tag. Ich hatte vergessen, wie Glück sich anfühlt, wenn es einen bei der Hand nimmt und zum Tanze bittet.
Meine süße kleine Scarlet, jetzt weiß ich es: Du hast seine Augen. Du bist so klein. Ich habe Deine Aura gesehen, als die Hebamme dich in die weißen Tücher eingewickelt hat und Du geschrien hast. Sie ist scharlachrot, Deine Aura. Es ist unglaublich, wie Du duftest. Mir ist, als könnte ich tagelang nichts anderes tun, als Deine Haut zu berühren und diesen Duft zu atmen.
Du bist kerngesund, das hat die Hebamme gesagt.
Herrje, ich könnte nur weinen, wenn ich Dich anschaue.
Wäre Mortimer nur hier, er würde Dich sicherlich ebenso ansehen, wie ich es tue. Er würde Dich fest im Arm halten.
Er wird nie erfahren, dass es Dir gut geht. Er wird nicht einmal erfahren, dass es Dich gibt.
Mortimer wird nie wissen, wie sehr dieser Tag doch mit Magie erfüllt ist. Wir schreiben den 21. November des Jahres 1898, und die Welt ist ganz plötzlich ein wunderbarer Ort.
Ach, kleine Scarlet, ich sollte Dir lieber erzählen, was eben passiert ist.
Micklewhite House ist umgeben von den verschiedensten Pflanzen und sogar im Inneren, auch im Winter, eine einzige grüne Oase. Lavendelbäume, Basilikum, Wacholderbüsche, Anemonen, Indianernesseln und Goldrute, Rosen, Tränende Herzen und Efeu. Sie alle verströmen ihre Düfte, sie alle erwecken den Eindruck, das Haus selbst sei ein lebendiges Wesen.
Als die Wehen einsetzten und ganz schrecklich stark waren, da beugten sich auf einmal die Rosen zu mir ans Bett. Die Ranken selbst bewegten sich, die anderen sahen es auch. Ich konnte die Blüten riechen, weil sie mein Gesicht berührten, und sie beruhigten mich. Und dann, kleine Scarlet, als Du endlich im Arm der Hebamme Deinen ersten Schrei ausstießest, da raschelten die Blätter
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