Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
es.« Sie berührte das
Amulett, betrachtete das Wasser, in dem die Steinchen und die kleinen Symbole schwammen. »Aber hört auf, dieses Spiel zu treiben.«
»Nun gut.« Virginia Dare sah zur Decke hinauf. »Hören Sie nur!« Aus den Lautsprechern erklang They can’t take that away from me . »Wollen Sie die Erinnerungen zurückhaben?« Sie nickte ihr zu. »Dann trinken Sie!« Ihre klaren kalten Augen beobachteten Scarlet. Die Wendigo rührten sich nicht. »Es ist kein Gift, keine Angst. So plump würde ich nie vorgehen.« Sie lächelte. »Freier Wille«, sagte sie. »Ob Sie es tun oder lassen, liegt allein in Ihrem Ermessen. Tun Sie, was immer Sie wollen. Aber tun Sie es jetzt.«
Scarlet berührte das Amulett und wusste nicht, was sie tun sollte.
Sie zögerte.
Jake ergriff ihre Hand.
Nickte ihr zu.
»Es sind deine Erinnerungen, Scarlet.«
Mehr war nicht zu sagen.
Sie lächelte ängstlich. »Danke«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Danke, Jake.«
Was würde sie erwarten?
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Jake nur: »Ich bin da. Was immer auch gewesen sein mag.«
Sie betrachtete das Glasröhrchen.
Schüttelte es sanft.
Die bunten Steinchen im Wasser tanzten mit den Pflanzenstückchen und Symbolen zur Melodie des Liedes They can’t take that away from me . Es war ein Tanz, der so beschwingt wirkte, dass sie keinerlei Zweifel mehr hatte.
Scarlet entkorkte das Amulett und setzte es an die Lippen.
Dann trank sie von den Erinnerungen, die man ihr genommen hatte, und wie eine Flutwelle kehrte all das, was fort gewesen war, zu ihr zurück. Ein Bilderschwall ließ sie zu Boden sinken. Gefühle begruben sie unter sich. Es war so, als sei sie blind gewesen und würde von allen Farben der Welt bestürmt, im Bruchteil eines Augenblicks. Ein einziges Zwinkern war es, das sie erbeben ließ, und dann wusste sie, was alles geschehen war. Sie wusste, wer sie war. Sie wusste, wer sich hinter dem Namen, den sie trug, verborgen hatte. Sie sah die Gesichter, die sie ihr Leben lang begleitet hatten, hörte Stimmen, die ihre Welt erschaffen hatten, roch Düfte, die sie mit Kindheit, Heimat und allem anderen verband.
Da war ein kleines Geschäft, Hawthorne’s Shop . Sie verkaufte Blumen und Pflanzen und Saatgut in diesem Laden. Ein einfaches, schönes Leben war es, das sie führte. Rima, ihre Mutter, war die Inhaberin des Geschäfts. Der Laden befand sich in St. Clouds, Minnesota.
»Ich bin vor ein paar Wochen dreißig geworden«, stammelte sie. Jetzt wusste sie es.
Es war ein weiter Weg von St. Clouds bis nach New York.
Sie schloss die Augen.
Sah all die Zimmer, in denen sie gelebt hatte. Räume, in denen wichtige und unwichtige Gespräche geführt worden waren. Orte, mit denen sie etwas verband. Kummer, Glück, Zorn, Geborgenheit.
Sie spielte manchmal Klavier, obwohl es niemals ihre Stärke gewesen war. In dem Haus in der Winnipeg Street stand schon ein Klavier, als sie dort eingezogen waren. Ganz voller Kratzer war das Holz, der Lack an vielen Stellen abgebröckelt, der Glanz verblichen. Die Tasten waren mehr gelb als weiß, mehr grau als schwarz, bei manchen hatte sich die
Farbschicht sogar ganz abgelöst. Sie mochte das hässliche Ding, vom ersten Augenblick an. Sie spielte gern darauf. Es war wie sie. Das, was ihre Finger fabrizierten, war Musik, die keine war. Dafür aber ehrlich. Sie spielte einfach drauflos.
Das war St. Clouds.
Ihr Heimatort.
Menschen.
Straßen.
Häuser.
Stimmen.
Gesichter.
Das alles war ihr wirkliches Leben. So weit fort von dem, was sie gerade jetzt erlebte.
St. Clouds war eine Stadt, in der die Menschen einander kannten und grüßten, wenn sie sich auf der Straße begegneten. In den lauten und leisen Gesprächen auf der Straße oder über die Zäune hinweg tauschte man nette Belanglosigkeiten aus: Wie wird der Winter, wie wird der Sommer, wie wird der Herbst? Welcher Dünger ist gut für den Rasen, wer hat Probleme mit Moos oder Waldmurmeltieren? Man sah Pick-ups, beladen mit großen Säcken voller Saatgut und Werkzeugen, und Männer mit karierten Hemden und Latzhosen und Baseballmützen, die Budweiser tranken, manche sogar schon am frühen Morgen. Man sprach über Baseball, wenn die Saison begann, und immer noch, wenn sie schon vorbei war. An den Garagen waren Basketballkörbe angebracht, in die Jungs Bälle warfen. Eltern trafen sich in Schulen und Kindergärten, um Kuchen zu backen oder Feste vorzubereiten.
Das alles war St. Clouds.
Minneapolis war nicht weit
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