Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
zu den Pflanzen gesprochen.
Sie war zur nächstbesten Tür gelaufen, hatte sie geöffnet und war hindurchgegangen. Sie hielt das Amulett fest in der Hand, und als sie den Fuß über die Schwelle setzte, da hörte sie den Efeu wie wild rascheln, und schon betrat sie den Rasen im Battery Park. Ein kalter Wind, geboren auf den
Fluten des Hudson River, fegte ihr durchs Haar. Und sie wusste nicht mehr, wo sie war. Sie wusste noch ihren Namen, ja, das wohl: Scarlet Hawthorne. Aber wer sich hinter diesem Namen verbarg, das wusste sie nicht mehr.
Die Tür, die sie noch vor wenigen Augenblicken auf dem Rasen zu erkennen geglaubt hatte, löste sich in Luft auf, doch bevor sie endgültig verschwand, sah Scarlet, wie der Efeu sich um den Rahmen schlang und an ihm zerrte, bis das Holz zerbarst.
Die Tür zersplitterte.
Dann war sie fort.
Doch sie, Scarlet Hawthorne, war noch da.
Niemand war ihr durch die Tür gefolgt. Sie wusste nicht, wohin die anderen Türen, die sie gesehen hatte, führten.
Sie weinte.
Dunkles Blut klebte an ihren Händen, und sie wusste nicht mehr, woher es kam. Sie spürte einen Kloß im Hals und betrachtete das kleine Röhrchen mit dem Wasser und den kleinen Steinchen und anderen Dingen. Sie hielt es in der Hand und fragte sich, warum das Lederband, an dem es hing, zerrissen war.
Alles änderte sich.
Sie stand am Rande des Battery Parks und bewegte sich kaum. Sie konnte die Silhouetten der Kanonen erkennen, die einmal die Stadt verteidigt hatten und die jetzt kaum mehr als eingerostete Attrappen waren. Ein Wind, der nach der fauligen Tiefe der weiten See roch, wehte ihr schneidend ins Gesicht, und das pechschwarze Haar kitzelte ihre bleichen Wangen.
Die alte holländische Windmühle, die wie ein hölzernes Karussell aussah, drehte sich hinter ihr im Kreis, und die
Segel aus weißem Leinen blähten sich mit jeder Böe. Es roch nach dem dunklen Wasser des Hudson, der nicht weit von dieser Stelle den East River küsste und gemeinsam mit ihm der offenen See zuströmte. Sie musste an einen anderen Ort denken, einen See, der weit entfernt war und dessen Ufer von hohen Kiefern und Tannen und wilden Zedern gesäumt waren.
Sie wusste nicht, was es mit diesem See auf sich hatte, und sie hatte auch keine Ahnung, wo sich dieser See befand. Doch es waren Wasser, die eigentlich woanders waren. Und auf ihrer Hand setzten sich nur die Schneeflocken nieder.
Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder. Sie war noch immer hier. Nirgendwo anders.
Dann zerschnitt das Heulen die Luft. Es durchschnitt die Nacht, und sie wusste, dass, wer immer dieses Geräusch machte, hinter ihr her war. Sie begann zu laufen und rannte einer Zukunft entgegen, in der sie sich jetzt gerade befand, sie war mittendrin.
»Ihr habt ihn getötet«, presste sie hervor und funkelte Virginia Dare voller Hass an. »Ich habe ihn geliebt, und Ihr habt ihn getötet.« Sie schlug mit den Fäusten auf den Boden und schrie sich die Seele aus dem Leib. »Was wollt Ihr denn noch von mir?« Sie stand auf, ganz langsam. Ging auf die Frau in Weiß zu. »Wollt Ihr auch mich töten?« Sie starrte die Wendigo an, dann wieder Virginia Dare. »Dann tötet mich doch!«, kreischte sie wie von Sinnen. »Kommt her und macht all dem ein Ende. Lasst die Wendigo tun, was sie auch schon mit Keanu getan haben.« Ihre Gedanken kreisten, und sie stürzte in diesen Wirbel aus Fetzen, die ihr ins Fleisch schnitten und die Tränen nicht verebben ließen.
Die Bilder indes hörten nicht auf zu fließen. Sie waren ein
Meer, das keinen richtigen Anfang und auch kein Ende hatte. Von Küste zu Küste, diesseits und jenseits des Horizonts, es ging immer weiter.
Scarlet hatte das Gefühl, als habe sie reines Unglück getrunken, indem sie das Amulett geleert hatte.
Sie sah ihre Mutter, die wie leblos inmitten der Pflanzen im Gewächshaus lag.
Es war Winter, draußen lag Schnee, so dicht, wie er es nur im Dezember und dann erst wieder im Februar tat. Sie rannte zu ihr und drehte sie auf den Rücken. Ihre Augen waren weiß wie der Schnee vor dem Fenster, so leblos und kalt, wie sie es niemals vorher gewesen waren. Scarlet bat die grünen Pflanzen um Hilfe, doch keine von ihnen konnte ihr sagen, was geschehen war.
Rima Hawthorne, die mittags gern ein Nickerchen machte, war tief und fest eingeschlafen und einfach nicht wieder aufgewacht.
Das war alles.
Scarlet kniete über ihr.
Sie streichelte das während der letzten Jahre so grau gewordene Haar ihrer Mutter, fühlte ihren
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