Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
besondere Gabe, das hatte ihre Mutter ihr immer gesagt, das und immer nur diese Erklärung hatte sie bis dahin zu hören bekommen.
Als sie dann endlich erfuhr, was es mit ihrem Vater auf
sich hatte, da stieg sie in den Volvo und fuhr hinauf zum See. Keanu zeltete dort, seit Tagen schon. Er meditierte, einmal im Monat. Sie erzählte ihm alles und weinte, und dann schwammen sie in den Wassern, in denen sich das Firmament spiegelte, so dass man das Gefühl bekam, geradewegs im Himmel zu schwimmen.
Keanu küsste sie, und das Leben gehörte ihnen. Sie konnten das Glück mit den Fingerspitzen berühren, so nah war es bei ihnen, all die Jahre über.
Sie liebte Keanu.
Sie wollten heiraten, irgendwann im folgenden Jahr. Sogar über Kinder redeten sie.
Beide sahen die Zukunft, die ihnen gehörte, ganz deutlich.
Manchmal sang er für sie, ganz leise. Lieder der Stämme von den Seen. Und manchmal sang sie für ihn, mit ihrer rauen Stimme, die kein Lied gut klingen ließ, außer für jene Menschen, die ihre Stimme mochten. Er liebte es, sie singen zu hören.
Scarlet erinnerte sich nun genau.
Keanu hatte sie geliebt. So wie sie war, mit all den seltsamen Eigenheiten, die das Leben zuweilen mit sich bringt, wenn man ein Tricksterkind ist.
Jetzt war er tot.
Das Gesicht zerfetzt von den Klauen eines Wendigo.
Überall Blut, und sie kniete neben ihm und sah in die dunklen Augen, als das Leben aus ihnen tropfte wie Tränen, die nimmermehr versiegen wollten.
Er hatte ihr das kleine Amulett im vergangenen Sommer geschenkt, oben am See, zusammen mit dem Versprechen, es irgendwann mit Magie zu füllen.
Es war ein Talisman der Anishinabe.
Scarlet schrie, als die Bilder ihr Herz durchbohrten.
Sie hockte auf dem Boden in diesem eisig kalten Lichtspieltheater und schrie sich die Seele aus dem Leib.
Jake Sawyer kniete neben ihr und hielt sie fest im Arm.
Sie spürte die Wärme seines Körpers.
Dann stieß sie ihn fort.
Sie konnte es nicht ertragen, dass jemand so nah bei ihr war.
Nicht jetzt, nicht hier.
Die Bilder gehörten nur ihr, niemandem sonst. Nur ihr allein, allein, allein. Sie ertrank darin und tauchte wieder auf, schnappte nach Luft, ertrank erneut. Die Luft war kalt, und die Tränen, die sie weinte, waren es nicht.
Keanu!
Erneut sah sie in die dunklen Augen und hielt seine Hand. Er spuckte Blut und hustete, während die Wendigo um sie herum laut knurrten.
Sie waren zum Paramount Building gekommen, weil die Spuren, denen sie zwei Tage lang gefolgt waren, sie dorthin geführt hatten. Doch dann, als sie in der Falle saßen, hatten sie zu fliehen versucht. Lady Solitaire hatte die Meute wilder Wendigo auf sie gehetzt. Eine der Kreaturen hatte sie angegriffen, als sie zum Ausgang gestürmt waren, und Keanu hatte sich zwischen Scarlet und den Wendigo gestellt. Eine Pranke hatte ihn getroffen und ihm den Brustkorb aufgeschlitzt und dann die linke Hälfte des sonst so hübschen und stolzen Gesichts zerfetzt. Keanu Chinook war zu Boden gegangen, und Scarlet war augenblicklich bei ihm gewesen. Sie hatte damals gedacht, dass sie jetzt gemeinsam sterben würden.
Damals, damals.
Damals.
Ein Damals , das gerade zwei Tage Vergangenheit war.
Bilder.
Zerfranste Bilder, so nah und so fern.
Keanu berührte mit letzter Kraft das Amulett, packte es, riss es ihr vom Hals, so ruckartig, dass das Lederband, an dem es festgebunden war, zerriss. Dann zog er sie zu sich und küsste sie. Es war das letzte Mal, dass sich ihre Lippen berührten. Es war ein Kuss, der all die Jahre und all die Träume und all das Bedauern in sich trug, all die Gefühle und all die Trauer, die ein Kuss nur in sich tragen kann. Dann führte Keanu das Amulett an seinen Mund und atmete tief hinein. Sie beugte sich zu ihm und hörte, was er ihr sagte: »Du wirst all das vergessen, und das wird dich schützen. Sie werden dir nichts anhaben können.« Dann atmete er erneut in das Amulett, verschloss es und drückte es ihr in die Hand. »Magie«, keuchte er, zu leise. Dunkles Blut rann ihm aus dem Mund, lief ihm über den Hals. Er atmete nicht mehr. Seine Lippen wurden starr, und sein Körper sackte leblos zur Seite.
Scarlet schrie.
Es war in diesem Raum gewesen.
Sie schaute zu der Tür, die zerstört war.
Dorthin war sie gelaufen, nachdem Keanu gestorben war.
Die Wendigo hatten verzweifelt versucht, sie zu attackieren, aber sie waren an ihr abgeprallt. Der Efeu an den Wänden war zum Leben erwacht, weil er ihre Verzweiflung gespürt hatte. Ja, sie hatte
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