Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
fort und doch Welten entfernt.
St. Clouds war anders als die Orte, an denen Scarlet früher gewesen war.
Sie erinnerte sich an den Laden in Greenwich Downtown, wo ihre Mutter gearbeitet hatte. Steine hatte es dort gegeben und Krimskrams und viele, viele Pflanzen. Ja, an die Pflanzen konnte sie sich noch gut erinnern. An ihren Geruch, an das Gefühl, die Blätter zu berühren. An die Geschichten, die sie sangen.
Dann war sie mit ihrer Mutter weitergezogen, immer nach Westen.
Von New York nach Indianapolis, wo sie lange Jahre verbracht hatten, später weiter nach Chicago, wo sie die Highschool besucht hatte. Bilder voller Farben, die es schon gar nicht mehr gab. Die Farben waren verblasst, die Menschen gegangen.
Am Ende dann St. Clouds.
Da war ein Gespräch gewesen, vor zwei Jahren. Rima hatte ihr von London erzählt, von ihrem Vater, den sie Lapislazuli genannt hatte.
Die uralte Metropole von London war in der Stimme ihrer Mutter zum Leben erwacht. In der Stadt am dunklen Fluss hatte sie Mortimer kennengelernt, in einer Schule namens Salem House. Monate hatten sie gemeinsam verbracht, waren so glücklich gewesen, so unendlich glücklich, doch dann hatten sie sich trennen müssen.
Etwas Schlimmes war geschehen.
Ein Fluch hatte die beiden voneinander getrennt. Ein Name fiel: Shah-Saz. Er klang bedrohlich, fremdartig, boshaft. Scarlet hatte nicht weiter nachgefragt, nicht damals. Rima hatte von allein erzählt und erst geschwiegen, als sie bei Scarlets Geburt angelangt war.
Sie war aus dem fernen London nach New York gekommen, damals, als das Empire State Building noch nicht erbaut worden war. Sie hatte Ellis Island überstanden und ihr Kind zur Welt gebracht. Es war eine schwere Zeit gewesen, allein in einer fremden Stadt, allein in einem so fremden Leben.
Damals hatte sie damit begonnen, ihre Gedanken niederzuschreiben.
Sie war keine fleißige Schreiberin gewesen. Ihre Berichte wiesen viele Lücken auf. Das waren die Zeiten, in denen sie nichts geschrieben hatte. Doch das Wichtigste hatte sie festgehalten, in Schreibheften, wie Scarlet sie in der Schule benutzt hatte. Sie hatte ihrer Tochter die Aufzeichnungen gegeben und sie gebeten, darin zu lesen. Es würde wichtig sein, eines Tages, glaubte sie.
Und Scarlet hatte darin gelesen.
Die Zeilen entstanden erneut, wuselten wie Tintenwesen über das Papier, beschworen ein ganzes Leben herauf.
Und dann?
Die Bilder zerflossen, wichen einem Gesicht, das ihr Leben gewesen war.
Keanu Chinook.
Scarlet spürte, wie heiße Tränen über ihr Gesicht rannen.
Keanu!
Als sei es gestern erst gewesen.
Sie hatten sich am großen See kennengelernt.
Er war zum Angeln am See, und Scarlet fuhr dorthin, weil sie die Weite der Ebenen und die Wälder schon nach wenigen Tagen in der Stadt herbeisehnte, als hinge ihr Leben davon ab. Sie brauchte die Ruhe dort oben wie die Luft zum Atmen. Sie brauchte sie wie die Momente, in denen sie auf
dem Boden in ihrem Zimmer saß, laut Musik hörte und dazu mit dem Oberkörper schaukelte.
Schicksal oder was auch immer, dort begegnete sie Keanu.
Beide stellten fest, dass sie in Minneapolis studierten.
Und dann, nicht lange darauf, stellten sie fest, dass sie sich ineinander verliebt hatten. Sie fuhren oft zu den Seen und schwammen darin, bis es dunkel wurde. Im hohen Ufergras liebten sie sich und lauschten danach dem Wind und den Grillen. Wenn sie bei Keanu war, fühlte sie sich lebendig und frei. Er erzählte ihr von den Sioux, den Ojibwe und den Anishinabe. Von den Siedlern, die aus Europa kamen, und dem misslungenen Aufstand von 1862. Davon, dass man viele Sioux in Mankato gehenkt hatte, viele andere waren nach Nebraska verbannt worden. Er zeigte ihr eine neue Welt, und sie liebte es, sich durch diese Welt führen zu lassen.
Keanu war eine Truhe voller Geschichten.
Vier Jahre arbeitete er mit in der Gärtnerei. Scarlet sah ihn morgens, wenn er aus dem Bad kam, und später, wenn die Arbeit erledigt war. Wenn sie aufstand, war er meistens schon damit beschäftigt, die Säcke voller Erde und die Blumenkübel zu sortieren. Der Laden war ein Meer aus Pfingstrosen, Rittersporn und Türkischem Mohn. Keanu brachte ihr bei, wie die Indianer die Pflanzen sahen. Als Gefährten, denen man mit Respekt begegnen musste. Man musste ehren, was die Natur einem gab. Das durfte man niemals vergessen. Sie erklärte ihm, was die Pflanzen empfanden und wie man mit ihnen reden konnte. Sie zeigte ihm, dass Pflanzen auf sie reagierten. Es sei eine
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