Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Sie wich dem eisigen Blick der Frau in Weiß nicht aus.
»Sie handelten im Auftrag von Lord Somnia.«
Scarlet hatte keine Ahnung, von wem sie sprach. »Nie von ihm gehört.«
»Er gibt niemandem preis, wer er ist. Er spricht nur durch die Dreamings zu den Menschen, die ihm dienen.«
»Aber ich …«
»Ach ja, Ihre schönen Erinnerungen«, sagte Virginia Dare. »All Ihre ach so süßen Erinnerungen. Sie wollen sie so gerne zurückhaben, nicht wahr, gleich hier und jetzt? Dann würde es Ihnen besser gehen. Dann wüssten Sie endlich, was Sie getan haben.« Sie schien abzuwägen, ob sie das Risiko eingehen konnte, ihr die Erinnerungen zurückzugeben. Zärtlich berührte sie die Holzkugeln, die ihr in die Haare geflochten waren. »Sie sind Ihnen ganz nah. Trinken Sie sie doch aus, alle auf einmal.« Sie sah aus wie ein Raubtier, wunderschön und gefährlich zugleich. »Die ganze Zeit über tragen Sie all Ihre Erinnerungen bei sich, ganz nah, auf der Haut.« Sie lachte laut auf, und es hörte sich an, als würde das Eis auf einem See ganz langsam zerbrechen. »Alles, was Sie tun müssen, ist, sie trinken.«
Scarlet wurde bleich.
Das Amulett! Sie umfasste es, hielt es fest, als sei es plötzlich das Kostbarste, was sie besaß.
»Sehen Sie, die Antwort kommt von ganz allein zu Ihnen.«
Das kleine Röhrchen mit dem klaren Wasser und den bunten Steinchen und den vielen Symbolen.
»Kluges Kind«, sagte Virginia Dare. »Nehmen Sie es, und trinken Sie es aus, dann werden Sie all die Dinge erfahren, nach denen es Sie verlangt. Sie werden all das wissen, was Sie
vor zwei Tagen gewusst haben. Die Erinnerungen werden wieder Ihnen gehören.«
Jake berührte ihre Hand. »Tu das nicht«, warnte er sie.
»Warum?«
»Weil sie es sagt«, gab er zu bedenken. »Ich traue ihr einfach nicht.«
Scarlet dachte an den Moment oben auf der Brooklyn Bridge und fühlte sich nicht gut dabei, seine Besorgnis so abzutun. Aber sie konnte sich dem nicht verschließen, was sich ihr bot. »Du weißt nicht, wie es ist, wenn man ganz ohne Erinnerungen leben muss.«
»Sie ist verschlagen.« Jake sah Virginia Dare böse an. »Sie führt etwas im Schilde.«
Scarlet zögerte.
Sah mich an.
»Es ist Ihre Entscheidung, Miss Scarlet.«
»Mistress Atwood!« Jake sah mich vorwurfsvoll an.
»Es gibt Entscheidungen im Leben«, sagte ich ihm, »die kann einem niemand abnehmen. Wenn man im Nachhinein feststellen muss, dass man sich völlig falsch entschieden hat, dann hat man doch immer noch die Gewissheit, dass man selbst derjenige war, der die falsche Entscheidung getroffen hat.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Jake. Selbst wenn es schlechte Erinnerungen sind«, hielt ich ihm vor Augen, »es sind Scarlets Erinnerungen. Sie gehören zu ihr wie das Leben, das sie einmal gelebt hat. Wir haben kein Recht, ihr diese Entscheidung abzunehmen.«
Virginia Dare, die dem Gespräch mit wachsamen Augen gefolgt war, machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mir ist es einerlei, was Sie tun. Sie können mit Ihren Erinnerungen
sterben, oder Sie können es ohne sie tun. Am Ende, Scarlet Hawthorne, macht das keinen Unterschied.«
»Ihr wollt uns töten?«, fragte Jake.
»Ich werde Sie töten, ja.« Wie schwere Steine fielen die Worte in die Stille aus Eis und Schnee.
»Warum habt Ihr uns dann herbringen lassen?«, fragte ich.
»Ich musste es tun.«
»Um uns zu töten?«
»Unter anderem, ja.«
»Die Spinnen hätten uns töten können«, bemerkte ich.
»Ja, in der Tat, das hätten sie tun können.«
»Die Spinnen haben es aber nicht getan«, fasste Scarlet das alles angemessen zusammen. »Also muss es einen Grund dafür geben, dass wir hier sind.«
»Einen Grund gibt es doch immer, Miss Scarlet.« Das mädchenhafte Gesicht erstrahlte, vielleicht weil Virginia Dare Scarlets Hartnäckigkeit bewunderte. »Ich wollte herausfinden, ob Sie etwas Neues in Erfahrung gebracht haben. Ich war mir die ganze Zeit über so sicher, dass es richtig sei, Sie zu töten.« Sie senkte den Blick, zum ersten Mal, seit wir das Lichtspieltheater betreten hatten »Doch nach allem, was ich gerade gesehen habe, beginne ich zu zweifeln.« Sie schwieg nachdenklich. »Ich wollte mit Ihnen reden, das ist alles. Ich wollte sehen, was passiert.«
»Und?«
Sie hielt inne.
Scarlet fragte sich, was Virginia Dare auf Roanoke Island wirklich widerfahren war. Sie lebte schon so lange. Wann war ihr Haar derart weiß geworden? Wann hatte sie zu altern aufgehört?
»Wenn Ihr mich töten wollt, dann tut
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