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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Herz wird kälter, von Jahr zu Jahr, die Augen werden immer mehr wie Stahl, und die erstarrte Seele ist mir ein einziges wildes Winterland geworden.« Sie berührte einen Kinositz, liebkoste den samtigen Stoff mit dem Finger. »Er ist so weich und doch ganz kalt. Wie alles hier drinnen. Denn das bin ich.«
    »Der Schutzzauber«, warnte der Kojote, als sie sich Scarlet näherte. »Er ist noch immer lebendig und mächtig.«
    »Ja«, stimmte Lady Solitaire zu und lächelte sanft. »Mr. Chinook hat uns alle überrascht, als er sich für Sie geopfert hat.« Ihr Finger fuhr langsam am Rand des Sitzes entlang. »Aber so sind die Menschen. Immer für eine Überraschung gut.« Der Schnee, der ihr jetzt die Fingerspitze benetzte, schmolz nicht. »Mr. Chinook, erinnern Sie sich an ihn?«
    Scarlet schluckte.

    Sie erbebte innerlich, als sie diesen Namen hörte, obwohl sie sich überhaupt nicht an ihn erinnerte. Der war klingend wie eine Melodie, die sie gehört hatte, als die Welt sich noch nicht weitergedreht hatte. Aber sie konnte das Lied, das er war, trotzdem nicht erkennen.
    Mr. Chinook.
    Etwas löste der Name in ihr aus.
    Wehmut?
    Verwirrung?
    Trauer?
    »Das war sein Name: Keanu Chinook. Sie erinnern sich nicht an ihn, nicht wahr?« Lady Solitaire schritt die Reihe entlang und kam endlich beim Gang an. Sie sah wirklich aus wie ein Mädchen, aber ihre Augen waren so voller Tiefe und Alter. »Er hat Sie begleitet, immerzu. Er hat Sie geliebt. O ja, das konnte man sehen, selbst ich. Er hat Sie andauernd angesehen, als würde er sein Herz zum ersten Mal verlieren.«
    »Wer seid Ihr?«, fragte ich sie.
    »Haben Sie es nicht erraten, neugierige Mistress Atwood?«
    Ich sagte: »Die verschwundenen Kinder. Ihr seid die Frau in Weiß, die damit zu tun hat.«
    Sie starrte mich nur an.
    Schmunzelte.
    »Wir haben Eure Spuren gefunden«, fuhr ich fort, »überall in der Geschichte. Immerzu ist von einer Frau in Weiß die Rede. Wo sie auftaucht, da verschwinden die Kinder. Keiner weiß, was mit ihnen geschieht.« Ich trat auf sie zu, einen Schritt nur, aber ein Wendigo versperrte mir knurrend den Weg. »Ihr weiltet damals in London, vor etwas über zehn Jahren. Madame Snowhitepink , so rief man Euch. Und vor mehr als achtzig Jahren wart Ihr in der Wüste. Ja, in Karnak am
unteren Nil wurdet Ihr gesichtet. Mr. Howard Carter hat Euren Namen in seinem Bericht erwähnt: Wilhelmina White .«
    »Namen«, lachte sie nur, »sind doch nicht mehr als Schall und Rauch.« Sie lächelte sanft, als habe sie gerade einen vortrefflichen Scherz gemacht. »Sie vergehen im Hauch der Jahre, als habe sie nie jemand ausgesprochen.«
    »Wer seid Ihr?«, fragte jetzt auch Scarlet.
    »Ich bin Lady Solitaire«, antwortete sie schnell, »doch früher nannte man mich Virginia.«
    Der Kojote sagte: »Virginia Dare.«
    »Das erste englische Kind, das auf amerikanischem Boden geboren wurde.«
    »Sie sagen es, Mistress Atwood.«
    »Aber …«
    Der Kojote sprang behände von der Bühne und landete dicht neben mir: »Ich kümmere mich um Virginia Dare, seit ich sie in den Wäldern gefunden habe.«
    »Ich war geflohen«, erklärte das eisig kalte Wintermädchen mit ruhiger Stimme, »aus der Siedlung auf Roanoke Island. Ich war in die tiefen Wälder hineingelaufen, als das Unglück über die Kolonie kam, und dort ernährte ich mich von dem, was ich fand. Es war bitterster Winter, und mein Herz fror immer mehr. Die Kolonisten waren alle tot. Die Secotan fürchteten sich vor mir, wie sie sich vor allen Siedlern gefürchtet hatten. Sie glaubten, dass etwas Böses nach Roanoke Island gekommen war. Sie glaubten, dass das Böse meinetwegen gekommen war. Ich irrte allein durch die Wälder, hungerte, fror, versteckte mich vor den Einwohnern, die mich gewiss als Sklavin an andere Stämme im Süden verkauft hätten, wären sie meiner habhaft geworden. Ich wollte sterben, das Leben in den Wäldern war hart.
Meine Eltern waren fort, ich war allein. Doch dann fand mich der Kojote.«
    »Ich nahm sie mit nach Croatoan und zeigte ihr, was dort geschehen war, und erklärte ihr, weshalb wir diesen Ort verlassen mussten. Dann gingen wir beide nach Norden, wo die Wainoke lebten. Sie nahmen uns auf, weil der Kojote ein hohes Ansehen dort genießt. Dort wuchs Virginia auf, inmitten der Wälder und Höhlen, vor denen die Wainoke ihre Wigwams errichteten. Sie war zwei Jahre alt gewesen, als ich sie fand. Ein verwildertes Winterkind mit einem Herzen, das kalt vor Furcht war. Als sie zehn Jahre alt

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