Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Wendigo stürzten sich jetzt auf die ersten Schlafwandler und zerrissen ihre Körper. Sie waren Raubtiere und töteten ohne Skrupel und so effizient, als sei dies allein der Zweck ihrer Geburt.
Der Kojote indes zog nicht weit von uns entfernt einen schmalen Säbel aus dem Schaft seines Gehstocks heraus und stach auf die näher kommenden Gestalten ein, sorgsam darauf bedacht, sich ihnen nicht allzu sehr zu nähern.
Es floss Blut aus den Wunden, die er mit dem Säbel schlug, denn die Wesen, die ihn angriffen, waren noch immer Menschen aus echtem Fleisch und lebendigem, warmem Blut.
Allein das Bewusstsein gehörte nicht mehr ihnen.
»Lasst euch nicht von ihnen berühren«, sagte ich.
»Ich habe meine Mutter aber auch berührt.«
»Unwichtig. Ich habe auch schon einmal einen ihrer Art berührt, und es ist mir nichts geschehen. Und trotzdem.«
»Aber wenn meine Mutter mir keinen Schaden zugefügt hat …«
Ich verdrehte die Augen vor Ungeduld. »Ich habe im Krankenhaus von Grymes Hill Schlafwandler gesehen, als ich in die Ermittlungen hineingezogen wurde. Dr. Dariusz hat mich zu ihnen vorgelassen und mir alles über sie erzählt. Alles, was er wusste, und das war eher wenig als viel. Sie haben einfach geschlafen, und manche von ihnen sind auch wieder aufgewacht. Eigentlich haben sie gar nichts getan. Aber diese Kreaturen hier sind anders.«
Scarlet nickte. »Ja, Sie haben recht.« Sie hatte eindeutig Mühe, die durch den Saal streifenden Horden als Kreaturen zu sehen. Für sie waren es noch immer Menschen, die irgendwo
einem Leben, das sie bis vor wenigen Stunden noch ohne Arg geführt hatten, entrissen worden waren.
»Wir sollten uns beeilen«, drängte Jake. Er war bereits bei der nächsten Tür angelangt und machte sich an ihr zu schaffen. Es war eine grellgrüne Plastiktür mit einem modernen Griff, die man wohl einfach zur Seite schieben musste. Jake probierte es, zerrte gewaltsam an dem Griff, so fest es nur ging.
Wieder nichts!
Er fluchte still, schaute auf, beobachtete die Schlafwandler und sagte schließlich: »Sie sind nicht dumm.«
»Ja, als hätten sie ein gemeinsames Bewusstsein.« Die Schlafwandler gingen systematisch vor, das erkannte auch Scarlet. Sie besetzten zuerst akribisch alle Ausgänge. Während einige von ihnen wie Raubtiere hinter Virginia Dare und dem Kojoten her waren, bewegten sich die anderen auf die überall im Saal verteilten frei stehenden Türen zu. Was auch immer man mit den Türen alles anfangen konnte, die Schlafwandler wussten anscheinend um deren Bedeutung. Zumindest war ihnen klar, dass die Türen wichtig waren, dass Virginia Dare und der Kojote durch sie fliehen konnten.
Scarlet seufzte.
Wenn es stimmte, dass jede dieser Türen an einen anderen Ort führte, dann waren sie die einzige Möglichkeit, von hier zu entkommen. Blieb bloß noch die Frage, wohin einen die Tür, durch die man ging, schickte. Zurück in die Grand Central Station wollte Scarlet auf gar keinen Fall. Da würde sie wieder genauso in der Falle sitzen, wie sie es vorhin getan hatte. Nein, Jake musste eine Tür finden, die an einen Ort führte, der ihnen helfen würde.
An ganz anderer Stelle in dem riesigen Lichtspieltheater wich Virginia Dare unterdessen mit panischem Blick den
Kreaturen aus, die ihr nachsetzten. Sie erhob sich in die Lüfte, und kurz sah es so aus, als schwebe sie mit ausgebreiteten Armen ein Stück weit über die Sitze, um gleich neben einer Tür zu landen.
Scarlet blinzelte.
Hatte sie gerade richtig gesehen?
Sie musste an das denken, was der Kojote und diese Frau in Weiß gesagt hatten. Dass er der jungen Virginia Dare eine Verständigung mit den Tiergeistern ermöglicht hatte, dass sie geflogen war wie ein Adler.
Geschichten.
Oder doch nicht?
»Wenn wir von hier fort wollen«, schlug Jake vor, »sollten wir uns wirklich beeilen.« Wütend trat er gegen die nächste Tür und den Rahmen. Nichts bewegte sich.
Scarlet stimmte ihm zu.
Sie sah plötzlich Queequeg vor sich, den Tunnelstreicher, den, konnte man Virginia Dare Glauben schenken, die Spinnen gefressen hatten. Sein Tod war sinnlos und brutal gewesen, wie eigentlich jeder Tod es ist. Sie warf einen Blick auf die Frau in Weiß, die auch jetzt noch wunderschön war, und die Sympathie, die sie für einen kurzen Augenblick empfunden hatte, schwand so schnell, als sei sie nur ein schlechter Traum gewesen. Virginia Dare und der Kojote hatten Queequeg töten lassen, ohne überhaupt darüber nachzudenken, ob ein solches
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