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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Restaurants und Bars, die alle verwaist waren. Nirgends fand sich irgendeine Menschenseele.
    Schließlich erreichten wir den Palm Court.
    Edle Säulen aus Marmor trugen eine Decke aus Buntglas, durch die mattes Licht schimmerte. Skulpturen an den Säulen zeigten die vier Jahreszeiten, die sich langsam bewegten, als würden sie gern aus dem Marmor ausbrechen und endlich wieder das sein, was sie einmal gewesen waren. Überall standen große Palmen in Kübeln aus Silber, ihre Blätter waren wie ein Baldachin für die Gäste, die durch den saalartigen Garten gingen.

    Vorsichtig traten wir ein.
    Spähten in die Schatten.
    Dorthin, wo das Ding stand.
    »Was ist das?«, fragte Scarlet, aber sie glaubte, die Antwort bereits zu kennen.
    Ein Gewächs befand sich in der Mitte des Saals, missgestaltet und atmend. Es war ein Baum mit knorrigen Ästen, die bis hinauf in die Bleiverglasung der Decke ragten, wo sie sich mitten ins Glas hineinbohrten und es an vielen Stellen splittern ließen. Welke, atmende Blätter, die keine Ähnlichkeit mit irgendwelchen Blättern hatten, die Scarlet jemals in ihrem Leben gesehen hatte, bewegten sich träge wie Hände, die in der Luft nach Nahrung suchten. Die wuselnden Wurzeln des mächtigen Baumes berührten die Gesichter von Kindern, die regungslos zwischen dem Wurzelwerk knieten und hektisch atmeten, während die Wurzeln ihnen etwas aus dem Körper saugten, was sie pulsieren ließ.
    »Pairidaezas Stock«, murmelte ich.
    Ehrfürchtig.
    Fasziniert.
    Es gab ihn also wirklich.
    Scarlet trat näher an den Baum heran.
    Erschrocken sah sie, wie sich eine der Wurzeln vom Gesicht eines Kindes löste. Die Augen des kleinen Jungen waren nicht mehr da, und das Blut, das ihm aus den Augenhöhlen rann, gefror zu einer spiegelnden Fläche, die kaltes Glas war und sich in der Haut verhakte.
    Angewidert trat Scarlet zurück.
    Eine Tür öffnete sich.
    »Berühren Sie ihn«, sagte eine Stimme, die tief und sanft wie Holz war. Eine Stimme, geboren zum Verführen.

    Wir drehten uns um.
    Ein Mann stand dort, wo wir eben noch vorbeigegangen waren. Er trug das lange blonde Haar offen, in sanften Wellen fiel es ihm über die Schultern. Die tief liegenden Augen musterten uns durch die dicken Gläser einer altmodischen Brille. Er trug einen dunklen Anzug und ein Halstuch aus Seide, das rot war wie Blut, ein weißes Hemd.
    »Sind Sie …?«
    Er unterbrach mich sanft, hob die Hand, stellte sich vor: »Der Zauberer von Oz. Der Lichtlord.« Er grinste wie ein Raubvogel. »Engel. Aufrührer. Freigeist.« Er verneigte sich tief. »Sie können mich Lucifer nennen, zu Ihren Diensten.« Er kam auf uns zu und fixierte Scarlet. »Mephistopheles«, sagte er mit einer Stimme, die sich genau wie die Robert de Niros anhörte, »klingt so übertrieben in Manhattan.« Er besaß einen leicht wippenden Gang, als lausche er andauernd einer Melodie, die außer ihm niemand zu hören schien. »Nur zu, Miss Hawthorne, berühren Sie ihn.« Er lächelte unbestimmt. »Sie spüren doch, was Pflanzen fühlen.« Er trat ganz dicht neben sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Sie sind ein Tricksterkind. Ich weiß, wo Ihr Vater ist.«
    »Ich …« Die letzte Aussage hatte sie ein wenig aus der Fassung gebracht, so beiläufig war sie geäußert worden.
    »Sie sind Scarlet Hawthorne. Berühren Sie ihn. Los, trauen Sie sich!«
    Scarlet trat vor.
    Sie wusste nicht, warum sie das tat.
    Es war, als sei sie in einem Traum gefangen. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf die Rinde des Baumes.
    »Sehen Sie!«, forderte Lucifer sie auf.
    Und sie sah.

    Ein Land, so wunderschön und prächtig, wie es nicht einmal Minnesota in ihrer Erinnerung war. Wiesen und Felder, Berge und Flüsse. Es gab klare Seen und Fische darin und so viele Tiere, die längst vergessen waren. Engel wandelten durch diesen Garten und saßen unter einem Baum. Es war ein prächtiger Baum, jung und gut im Saft. Er trug reife Früchte, die köstlich mundeten, wenn man sie aß. Pralle Früchte, rot und orange, grün und lila, alle Früchte der Welt wuchsen an den Ästen dieses Baumes.
    Sie ließ die Rinde los. Sie fühlte sich an wie Haut.
    »Jetzt schmecken die Früchte bitter.« Lucifer wirkte betrübt. »Man muss sich überwinden, will man sie essen.« Er verzog das Gesicht. »Und doch gibt es immer nur diesen einen Weg, um am Leben zu bleiben.«
    Scarlet schluckte. Noch immer spürte sie die Berührung auf ihrer Hand.
    »Was passiert mit den Kindern?«
    Lucifer trat näher an Pairidaezas

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