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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Stock heran. »Der Baum nimmt ihnen ihre Seelen.« Er sagte dies, als sei es völlig normal. »Er trinkt sie, wie Wurzeln sonst Wasser trinken.«
    »Die Kinder sterben.«
    »Nein, Mistress Atwood, ihre kleinen Körper leben weiter.«
    Der Junge, den die Wurzel eben freigegeben hatte, ging auf Lucifer zu. Der Engel berührte sanft sein Gesicht. »Sagt man denn nicht, dass die Augen ein Spiegel der Seele sind?«, sinnierte er leise. Mit langen Fingernägeln pflückte er die Scherben aus den leeren Augenhöhlen. »Und was sind dann die Spiegel?« Blut rann dem Jungen übers Gesicht, aber er verzog keine Miene dabei. »Nicht nur die Welt ist gierig.« Lucifer steckte sich die Scherben in den Mund, zerkaute und
schluckte sie. »Sehen Sie, jetzt ist sie fort, die kleine Seele.« Er deutete auf die pulsierende Wurzel, den Stamm, die Äste, die Früchte, die nur an manchen Stellen prall und voll waren. »Seine arme kleine Seele.« Das Blut in den Augenhöhlen des Jungen wurde erneut zu einer festen Masse, die am Ende zu spiegeln begann. »Ist es nicht grausam, das tun zu müssen, wieder und immer wieder?« Er ging zum Baum und pflückte eine Traube, betrachtete sie. »So viel Unschuld«, sagte er und seufzte. »Das ist alles, was davon übrig bleibt.« Er steckte sich die Traube in den Mund und schluckte sie herunter. »Sie schmecken bitter«, flüsterte er, »denn nicht mehr fühlen zu können, schmeckt immer bitter.« Er hob den Blick, die dunklen Augen sahen an Orte, die sie einst erblickt hatten. »So viel Unschuld, die vergeblich nach dem Leben sucht.« Er deutete auf all die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen. »Sie sind mein Leben. Und ich bin das ihre.« Er schaute Scarlet an. »Ist das nicht schrecklich?«
    »Warum tun Sie das?«
    Er pflückte eine weitere Traube. »Weil es meine Natur ist«, sagte er. »Der Träumer hat mich so erschaffen, meine Liebe. Lord Somnia, Mr. Morpheus, der Träumer, Dr. Dream, der Sandmann.« Er lachte bitter. »Ha, so viele, viele Namen, und immer ist er es, der dahintersteckt.« Er spuckte den Rest der Traube auf den Boden. Kleine Scherben steckten darin wie winzige Messer. »Mistkerl!«, fluchte er, drehte sich um und schnippte mit den Fingern. Eine Tür zwischen den Palmen öffnete sich. »Darf ich vorstellen?« Eine wunderschöne Frau mit blondem Haar trat in den Saal ein. »Mylady Lilith.« Er schnippte erneut mit den Fingern, eine andere Tür sprang auf. Er lächelte süffisant. »Meine Tochter kennen Sie ja bereits, wie ich meine.« Sie trat aus der Tür. Virginia Dare war
so schön, wie sie es im Paramount-Theater gewesen war, sie kam nach der Mutter.
    »Jetzt sind ja alle versammelt«, raunte ich, »wie bei Agatha Christie.«
    Scarlet wusste nicht, was sie sagen sollte.
    »Warum bin ich hier?«, fragte sie schließlich.
    Lucifer nahm sich ein Glas, das auf einem Tisch in der Nähe stand: »Sie sind dem gelben Steinweg gefolgt. Sie haben mich gefunden. Sie haben auf das gehört, was Mr. Fox und Mr. Wolf Ihnen geraten haben. Jetzt sind Sie hier. Bei mir. Bin ich nicht der, den Sie gesucht haben? Der Zauberer von Oz. Der Puppenspieler. Der Kerl, der die Fäden zieht.«
    »Sind Sie der Kerl, der die Fäden zieht?«, fragte ich herausfordernd.
    Stille trat ein.
    Wenn auch nur kurz.
    »Sie sind geschickter, als Sie zu sein vorgeben, Mistress Atwood.« Er pflückte noch eine Traube vom Baum, dann noch eine, wieder und wieder. Er zerquetschte sie, und der Saft floss in das Weinglas hinein. »Ja, ich bin der Kerl, der die Fäden zieht. Mister Bombastic. Ich bin derjenige, der die Karten neu mischt.« Er ging zu Lady Lilith und steckte ihr eine Traube in den Mund, den sie leicht geöffnet hatte. »Ich bin der Kerl, mit dem man sich nicht anlegen sollte.« Seiner Tochter reichte er das Weinglas, aus dem sie gierig trank.
    »Und Lord Somnia?«, hakte ich nach. »Mr. Morpheus?«
    Lucifer verzog das Gesicht.
    Lilith sagte mit ruhiger Stimme: »Er wird Sie nicht wieder zurück nach Kansas bringen, Miss Scarlet.«
    Virginia Dare schwieg.
    »Lord Somnia ist derjenige, der Unrecht tut. Nicht ich.«
Lucifer blickte in die Runde, seine Augen funkelten vor Zorn. »Er ist derjenige, der die Regeln bricht, die er selbst den Menschen und Engeln auferlegt hat. Er ist der Herr der Lüge, nicht ich.«
    Scarlet nahm all ihren Mut zusammen und stellte die Frage, auf die es ankam. Die Frage, die alle anderen Fragen beinhaltete. »Was geht hier vor?«
    »Sie sind doch gekommen, um Ihren Vater zu sehen?«,

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