Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
sagte Virginia Dare in einem spöttischen Tonfall. Noch immer war ihre Stimme klirrend wie Eis.
Scarlet dachte, dass es das Beste sei, bei der Wahrheit zu bleiben. »Wenn ich meinen Vater treffe, dann werde ich sterben.« Lucifer fragte nicht nach, warum das so war. »Ich soll ihn an Lord Somnia ausliefern, wenn ich ihn gefunden habe. Ich muss es tun, damit Lord Somnia meine Mutter freigibt.«
Lucifer schüttelte den Kopf. »Lord Somnia will mich ein für alle Mal erledigen«, stellte er fest. »Das Leben ist immer so einfach, nicht wahr? Der eine will etwas, der andere nicht. Es gibt einen Konflikt. Einen Sieger, einen Verlierer. Der eine bekommt, was er will, der andere nicht.«
»Ja«, sagte Scarlet, »scheint so.«
»Sie sind immerhin ehrlich«, sagte Lilith. Sie war so schön, wie ihre Tochter es einmal sein würde, wenngleich die Ähnlichkeit sich eher im Ausdruck der hell und blau blitzenden Augen verbarg.
»Warum sollte ich es nicht sein?«
»Weil die Welt eine durchtriebene Lügnerin ist«, antwortete der Lichtlord, »und alle dazu neigen, einander zu belügen.« Und dann: »Ihr Vater ist nicht hier.«
»Sondern?«
»Er ist woanders«, sagte Lilith und blickte Scarlet dabei in die Augen.
»Wo?«
Lucifer berührte das Blatt einer Palme. »Wissen Sie, warum wir hier sind?«
»Wissen Sie, warum er Sie nicht getötet hat?« Virginia Dare schien sie nicht zu mögen.
Beide schüttelten wir den Kopf.
»Lord Somnia, der Träumer«, er sprach die Namen aus, als seien sie pures Gift, »Mr. Morpheus, wie er sich seit Neuestem nennt, will die Engel töten. Nun ja, er hat schon damit begonnen. Er hat die großen Metropolen der Welt von ihnen gesäubert . Ja, das ist das Wort, das er benutzt, wenn er davon spricht. Worte sind mächtig, nicht wahr?« Er seufzte. »Diejenigen Engel, die noch am Leben waren und das Glück hatten, fliehen zu können, sind nun an einem sicheren Ort.«
»Wo?«
Er tippte sich an den Kopf. »Hier.«
Scarlet verstand nicht.
»Sie sind hier. Im Plaza . In jedem Zimmer. Sie sind überall. Sie schlafen.«
»Sie schlafen?«
»Bald, junge Miss Hawthorne, wird es zu einer Schlacht kommen«, sagte er mit einem Anflug von Genugtuung. »Einer gewaltigen Schlacht, wie damals um Pandaemonium. Ich werde die Engel, die noch leben, anführen.«
»Sie waren sterblich«, gab ich zu bedenken.
»Haben Sie Kinder, Mistress Atwood?«, fragte der Lichtlord.
Ich verneinte.
Lilith ging langsam durch den Saal, und auch ihre Hand
liebkoste die Palmen im Vorübergehen. »Der Träumer untersagte es uns, Kinder zu haben. Er verbot es, weil er es so wollte.« Ihre roten Lippen wurden ganz schmal. »Er hat so viele von meinen Kindern getötet.« Ihr Gesicht war eine Maske, als sie das sagte. »Doch wir haben jetzt Virginia. Sie ist unser Mädchen, und wir werden nicht zulassen, dass er ihr etwas antut.« Sie sah mir direkt in die Augen. »Sie ist im Verborgenen zu einer Frau herangewachsen. Sie ist das Winterkind, das keine Gefühle hat, weil ER sie ihr nicht zugesteht. Sie ist kalt, leblos, und doch voller Lebenslust.« Lilith ging zu Virginia und berührte zärtlich ihre Wange. »Wir konnten Kinder bekommen, doch diese Kinder, so wollte es der Träumer, sollten uns keine Gefühle entgegenbringen. Das war der Fluch, den er für uns vorgesehen hatte.« Sie lachte böse auf. »Doch Virginia ist anders. Sie ist kalt, aber nicht zu uns. Sie atmet den Winter, aber sie weiß, wie der Sommer schmeckt.«
Virginia sagte mit eisiger Stimme: »Ich weiß, was ich bin. Und böse bin ich nicht.«
Scarlet lief ein Schauer über den Rücken, als sie Virginia Dare das sagen hörte.
»Mr. Morpheus«, sagte Lilith, »wird Virginia töten, wie er alle anderen auch getötet hat. Er ist davon überzeugt, dass die Schöpfung keinen eigenen Willen haben darf. Das war schon immer sein Problem.« Sie seufzte. »Lucifer und ich, wir haben in London gelebt. Jahrhunderte sind dort vergangen. Doch die letzten beiden Jahre haben wir so gelebt, wie die Menschen es normalerweise tun.« Mit verträumtem Blick fügte sie hinzu: »Es gab da einen Laden, am Cecil Court, ein Antiquariat, das vorher einer wunderbaren Frau namens Eliza Holland gehörte.« Sie hielt inne, und ihre
Augen sahen aus, als blickten sie weit, weit zurück auf die Jahre eines vergangenen Lebens, die nichts je wieder zu ihr zurückbringen würde. »Wir haben den kleinen Laden übernommen, und das war unser Leben.«
»Wir sind älter geworden«, sagte Lucifer.
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