Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Traum träumt, fern der Welt und unwissend, dass es nur die Traumgefilde sind, die ihn zum Narren seiner eigenen Schöpfung halten. Keanu Chinook ist tot, und die anderen leben. Keanu ist tot.
Und Scarlet?
Scarlet Hawthorne sitzt in Myrtle’s Mill, zwei Tage, nachdem wir nach New York zurückgekehrt sind. Sie wird hierbleiben, in der Stadt. In Brooklyn, wo die Sonne immer wieder aufgeht. Wo sie wohnen wird, das weiß sie noch nicht, aber sie ist fest entschlossen, nicht in Myrtle’s Mill zu bleiben.
»Lassen Sie uns spazieren gehen«, schlage ich vor.
Draußen schneit es.
Noch zwei Tage bis Weihnachten.
»Die Stadt sieht jetzt anders aus«, stellt Scarlet fest.
Ich weiß, was sie meint.
Für uns alle sieht die Stadt jetzt anders aus.
Gestern ist Mortimer Wittgenstein nach einem langen Gespräch mit seiner Tochter aufgebrochen, nach Minnesota. Für einen Vater, der niemals eine Tochter hatte, ist es ebenso schwer, Vater zu werden, wie es für die Tochter, die niemals den Vater kannte, schwierig ist, so plötzlich Tochter eines Mannes zu sein, den sie nie zuvor gesehen hat. Sie haben sich getrennt mit dem Versprechen, sich schon bald wiederzusehen.
Es stimmt. Die Sonne geht tatsächlich über Brooklyn auf, jeden Tag, immer wieder.
Christo Shakespeare und Buster Mandrake hatten uns bereits in Myrtle’s Mill empfangen, als wir heimkehrten. Die Kathedrale hatte ihnen Schutz geboten, und die Wendigo hatten, nachdem wir in die Hölle hinabgestiegen waren, von ihnen abgelassen.
»Wie geht es Ihnen?«, frage ich meine Begleiterin.
Scarlet Hawthorne, die den bunten Flickenmantel trägt, dazu den Hut, sagt lange Zeit nichts. »Die Welt ist ungerecht«, flüstert sie, als wir über den Times Square schlendern. »Der Shah-Saz hat sich vom Leid meiner Eltern ernährt. Wir hätten all das gar nicht durchmachen müssen.« Sie schaut zu den Leuchtreklamen auf. »Es hat nie einen Fluch gegeben.« Sie hatten ihm geglaubt und all die Jahre und fast ein ganzes Leben voneinander getrennt gelebt. Und der Shah-Saz, der ein Wesen von großem Hunger war, hatte ihr tiefes Leid geschmeckt und die Verzweiflung genossen, all die langen Jahre über.
Doch wem nützt diese Erkenntnis jetzt?
Die Zeit kann niemand zurückdrehen.
»Sind Sie manchmal einsam?«, fragt Scarlet mich.
Ich schaue sie an. »Manchmal«, antworte ich.
Sie nickt nur.
Wir bleiben stehen.
Vorn, vor dem Lyceum-Theater, steht eine junge Frau auf dem Gehweg. Sie hält eine Klarinette in den Händen, die vor Kälte gerötet sind, und sie spielt Lieder von Gershwin, Porter und Berlin. Ihr Haar ist so schneeweiß wie ihre Haut, doch in ihren Augen lebt jetzt nicht mehr die Eiseskälte, die ihr seit der Kindheit eine treue Begleiterin war. Sie spielt und sieht die Menschen dabei an. Heaven, I’m in heaven, and my heart beats so that I can hardly speak, and I seem to find the happiness I seek when we’re out together dancing cheek to cheek. Die Zuhörer beachten sie kaum, gehen sorglos an ihr vorbei, doch Scarlet bleibt stehen, um ihr zuzuhören.
Scarlet weiß, dass es noch Engel gibt. Sie weiß, dass Vir ginia Dare in der Vergangenheit gewissermaßen kein guter Mensch war. Sie weiß, dass Dinge sich manchmal ändern können. Herzen, das sieht sie, können schlagen, wo vorher nur Eiseskälte war. Sie sind so mächtig wie nichts anderes auf der Welt.
Dichte Schneeflocken tanzen wie winzige Eisfliegen in der kalten Luft und verfangen sich in ihrem Haar, das jetzt nicht mehr so dunkel wie Ebenholz ist, sondern viel heller, und sie treiben in dem Atem, der ihr wie ein geheimnisvoller Schleier vor dem Gesicht schwebt.
Auf der anderen Straßenseite, gleich drüben am Broadway, steht ein altes Motorrad. Es ist eine Indian Summer , Baujahr 1958. Ein junger Mann sitzt darauf und sieht zu uns herüber.
Er trägt eine Lederjacke mit Fellbesatz am Kragen, dazu eine Mütze.
Scarlet sieht mich an.
»Gehen Sie«, fordere ich sie auf.
Sie lächelt, zögerlich. Dann läuft sie über die Straße, tänzelt in ihrem Mantel aus Flicken, der aus einem anderen Leben stammt, durch den Verkehr. Als sie auf der anderen Stra ßenseite ankommt, bleibt sie vor dem Motorrad stehen, die Hände in den Taschen vergraben.
»Scarlet«, sagt Jake Sawyer. Nur diesen Namen, nichts sonst.
»Bringst du mich nach Hause?«, fragt sie und sieht ihm dabei fest in die Augen.
Er lässt den Motor an. »Du weißt, das alles hat nichts zu bedeuten.«
Sie steigt auf, schmiegt sich an ihn. »Ja«,
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