Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
sich?«
    »Nichts.«

    »Sieht ganz so aus, als hätten Sie ein Problem.«
    »Ich weiß«, sagte sie.
    Wir liefen jetzt einen langen Gang entlang. Der Geruch des Untergrunds wehte uns entgegen. Es roch nach kaltem Tabak und getrocknetem Urin und dem Müll des Tages. Von Ferne hörten wir einen Zug in den Bahnhof einfahren. Der aufkommende lauwarme Wind wehte munter alte Zeitungen vor sich her. Runde Belüftungsrotoren drehten sich in rostigen Röhren, die wie blinde Augen aus den mit Plakaten und Graffiti überzogenen Wänden ragten.
    »Wir nehmen den Zug nach Brooklyn Heights«, sagte ich. »Wenn Sie mich begleiten wollen.«
    »Sie sind also keine der Hexen, die jungen Frauen, die nicht wissen, wer sie sind, zum Verhängnis werden.«
    »Die Wendigo sind schlimmer, als ich es je sein könnte, wenngleich einige meiner Studenten da bestimmt anderer Meinung sind.«
    »Sie sind Dozentin?«
    »Long Island University. Lehrstuhl für Botanik.«
    »Dann …«
    Ich gebot ihr zu schweigen.
    Ein eisiger Lufthauch blies uns mit einem Mal in die Gesichter.
    Er roch nach Wäldern, in denen wilde Tiere lebten, nach Ebenen, die nur Eis und Schnee erblickten.
    »Es kommt von dort«, mutmaßte ich und spähte vorsichtig in Richtung eines der Belüftungsschächte, durch die normalerweise schwülwarme Luft in die Tunnel geblasen wurde. Jetzt tropfte kaltes Wasser aus ihnen und gefror zu Eiszapfen, bevor es den Boden berühren konnte.
    »Oh, verdammt, gar nicht gut«, murmelte ich.

    »Was soll das heißen?«
    »Oh, gar nicht gut«, murmelte ich versonnen, »bedeutet normalerweise so viel wie … gar nicht gut .« Und …
    Oh, oh …
    Die kalten Winde wurden stärker.
    Die Belüftungsröhren bliesen plötzlich Luft in den Gang, die eisig kalt und mit Schneeflocken durchsetzt war. Und sobald der Wirbel aus Eis und Weiß die Gitterroste vor den Röhren überwunden hatte, begann der Schnee sich aufzutürmen und zu einer Gestalt zu formen.
    »Sie haben mich gefunden«, sagte Scarlet.
    Der Schneesturm versperrte uns den Weg zu den Bahnsteigen. Es gab kein Vorbeikommen, nur den Weg zurück. Dichter und dichter wurde der Wirbel, und die Gestalt, die sich aus ihm herausschälte, war groß und struppig und weiß wie der tiefste Winter.
    »Sieht so aus«, murmelte ich, »als hätten wir jetzt beide ein Problem.«
    Eine langgezogene Schnauze formte sich aus dem Weiß und dazu ganz spitze Ohren, die mühelos die Decke des Ganges berührten.
    »Sagten Sie nicht, dass die Wendigo die Wärme der Subway nicht mögen?«
    Ich zuckte die Achseln, hüstelte. »Da habe ich mich wohl ein wenig geirrt«, gab ich widerwillig zu und brachte unsere neue Situation höchst treffsicher auf den Punkt: »Oh, verdammt aber auch, verflucht und Dreck!«
    Scarlet sah mich überrascht an.
    Ich warf ihr einen strengen Blick zu. »Das habe ich gesehen.«
    »Was?«

    »Ihren tadelnden Blick, junge Miss Scarlet.«
    »Ich …«
    »Ich werde ja wohl noch fluchen dürfen, wenn es mir angemessen erscheint«, rechtfertigte ich mich, bevor sie etwas sagen konnte.
    Dann blickten wir in schneeweiße Augen, und ein Weiß, so grell und klirrend wie Sonnenschein auf einem Gletscher, schnappte nach uns mit einem gierigen Knurren, das nicht von dieser Welt war.

KAPITEL 2
    WENDIGO
    Erinnerungen, so viel ist klar, sind gar nicht so selten sehr wankelmütige Wesen, die uns nach Belieben zu necken verstehen. Scarlet Hawthorne dachte genau dies, als sie dem Wendigo gegenüberstand und sich fragte, wie schnell ihr Leben wohl ein Ende finden würde. Sie entdeckte ihr Wissen um derlei Kreaturen ausgerechnet in diesem Augenblick wieder, verborgen in den verschwommenen Bildern, an die sie keine richtige Erinnerung mehr hatte.
    Jemand hatte ihr einst von diesen Wesen erzählt. Sie konnte sich weder an die Stimme dieses Erzählers noch an ein Gesicht erinnern, aber sie wusste mit einem Mal, dass irgendjemand sie vor den Wendigo gewarnt hatte. Es war ein Splitter in dem Vergessen, das zu bändigen ihr einfach nicht gelingen wollte.
    Ob ihr das in der jetzigen Situation weiterhalf?
    Mitnichten!
    Es war mitten in der Nacht, sie war irgendwo im Zentrum von Gothams Greenwich Village im Tunnel einer Subway Station, es waren keinerlei Passanten mehr unterwegs, und sie wusste noch immer nicht, welchen Weg sie da eigentlich
beschritt. Alles war so unwirklich, als gehöre es gar nicht richtig zu ihrem Leben.
    Scarlet stand in dem muffigen Tunnel, der zum Bahnsteig hinunterführte, und starrte das Wesen an, das

Weitere Kostenlose Bücher