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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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würde er ihr Antworten geben können. Nicht zu wissen, wer sie war, machte sie rasend. Zum Verrücktwerden war das.
    Sie blickte sich um.
    Erinnere dich!, schrie eine Stimme in ihr. Erinnere dich!
    Sie betrachtete ihre Hände.
    Sie hielten etwas fest. Es war ein Amulett. Ein kleines Röhrchen, filigran und durchsichtig, mattes Glas, gefüllt mit winzigen bunten Dingen: Steinen, Federn, geflochtenen Schnüren, silbernen Symbolen. All diese verwunschenen Dinge schwammen in klarem Wasser. Und die Lederschnur, an der das Amulett befestigt war, hatte jemand zerrissen.
    Wieder starrte sie auf das Blut, das in sanften Spritzern an ihren Händen klebte.
    Ich bin Scarlet, dachte die junge Frau, und dies war ein Gedanke, der klar wie das Wasser in dem Amulett in ihr sang. Scarlet Hawthorne. Ja, das ist mein Name.
    Und dies hier war New York.
    Gotham.
    Die Stadt am Anfang der Neuen Welt. Die Stadt mit den vielen Namen. Sie war früher schon einmal hier gewesen. Sie spürte es. Das alles kam ihr bekannt vor. Aber sie wusste nicht, wann sie jemals in New York gewesen wäre. Sie konnte sich einfach an nichts mehr erinnern.
    Erneut betrachtete sie die blutverschmierten Hände.
    Ich gehöre nicht hierher! Nicht in diese Stadt, nicht an diesen Ort!
    So viel war klar.
    Und sonst?
    Nichts!

    Das war alles.
    An mehr konnte sie sich einfach nicht erinnern. Nur daran und an …
    Weiß!
    Sie blinzelte müde.
    Weiß war alles um sie herum.
    Sie bückte sich und nahm eine Handvoll Schnee in die Hände und wollte sich die Blutspritzer von der Haut reiben, als sie plötzlich innehielt und Tränen spürte. Nein, sie würde sich das Blut nicht abwischen.
    Das ist nicht mein Blut, dachte sie benommen. Sie wusste nicht, wessen Blut es war, aber sie wusste, dass sie es auf ihrer Haut lassen wollte. Warum? Sie wusste es nicht, und es war schrecklich, es nicht zu wissen. Nein, sie durfte es nicht abwischen. Es war nur ein Gefühl, das ihr die Kehle zuschnürte.
    Sie würde das Blut nicht abwischen, nie, niemals. Weil es …
    Was?
    Sie schloss die Augen. Es half nichts. Die Erinnerungen waren fort. Einfach so.
    Dann sah sie wieder hin, es ließ sich nicht vermeiden. Sie sah hin, mit Tränen in den Augen, und berührte das Blut mit dem Finger, ganz zögerlich und langsam. Es war trocken, so trocken, und fast schon schwarz.
    Ich bin allein, dachte sie. Die Tränen wurden heißer. Ich bin allein, allein, allein . Sie wusste, dass dieser Gedanke ein Schrei war, der schmerzhafter war als alles, was sie jemals empfunden hatte. Ich bin allein. Nicht allein im Battery Park und auch nicht allein in dieser Stadt, nicht allein irgendwo, sondern allein in der Welt. Allein, wie ich vorher nicht allein
war. Nicht allein, weil jemand bei mir war? Jetzt allein, weil derjenige, der bei mir war, nun fort ist?
    Wütend trat sie gegen einen Mülleimer, der scheppernd in der Verankerung erbebte.
    Ich muss hier fort!
    Sie zuckte zusammen.
    Das Heulen war wieder da.
    Es wehte durch die Nacht wie ein unruhiger Geist, der hungrig ist und auf der Suche nach Beute.
    Ich bin die Beute, dachte Scarlet.
    Sie musste ruhig bleiben. Sagte sie sich. Sie befand sich in Lower Manhattan, das wusste sie, und sie fragte sich jetzt nicht, woher sie das wusste. Irgendwie war sie an diesen Ort gelangt, aber es war jetzt nicht wichtig, wie das geschehen war. Man muss für den Augenblick leben – jemand hatte ihr das gesagt. Irgendwann einmal, irgendjemand.
    Sie begann zu rennen, plötzlich, das Heulen hinter sich. Was immer es war, es näherte sich schnell. Natürlich wusste sie, dass es töricht war, einfach draufloszulaufen, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie wusste sich keinen anderen Rat, also lief sie.
    Hinaus aus dem Battery Park und hinein in das Labyrinth der endlos langen Gitternetzstraßen, die hier, an diesem Flecken, noch ein Gewirr aus kunterbunt durcheinandergewürfelten Wegen und Gassen waren. Die Stadt am Rande der Welt, wie sie seit alters her genannt wurde, kannte keinen Anfang und kein Ende. Sie war wie ein Wesen aus Fleisch und Blut, sie war Licht und Schatten und Lärm und Stille und noch so viel mehr. Sie war richtig lebendig und wirklich mit Haut und Haar und Stein und Erde ein Wesen namens Gotham – so hatte Washington Irving sie getauft,
damals, als die Brooklyn Bridge noch nicht erbaut war, ja, Gotham, das dunkle Wesen. Sie war niemals müde, diese Stadt, und niemals schlief sie. Sie war immer schon so gewesen.
    Über die große See waren Schiffe gekommen und

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