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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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mit ihnen Menschen, ach, so viele Menschen, die alle andere Sprachen gesprochen hatten, die alle eine andere Heimat zurückgelassen hatten, die alle den würgenden Hass aufeinander, geboren in den vielen großen Kriegen der Alten Welt, bewahrt hatten und die alle vom gleichen Traum geeint worden waren. Dem Traum, dass es ein Land jenseits der Alten Welt geben würde. Ein Land, in dem man große Städte errichten würde. Städte wie die Stadt, die am Ufer der Zwillingsflüsse lag.
    Die erste Stadt, die nicht so war wie die anderen Metropolen, denen die Menschen auf dem alten Kontinent den Rücken gekehrt hatten. Die Stadt, die wie ein Traum war.
    Träumend, aber niemals schlafend.
    Und dies hier war ihr Zentrum.
    Eine Halbinsel, auf der sich das Leben dicht an dicht drängelte. Manna-hata , so lautete der Name dieses uralten Ortes.
    Scarlet kannte sich hier aus.
    Sie war schon einmal hier gewesen.
    Sie bemerkte es, als sie durch die Straßen lief und ihr Atem rasselte. Sie wusste, wohin ihre Schritte sie trugen, aber sie wusste nicht, warum sie es wusste. Jede Erinnerung, die sie in sich trug, schwamm zwischen den Wolken auf den Wassern, die so scharlachrot und gefärbt mit hellem Himmel waren.
    Sie hielt am Südende des Broadway an, dort, wo der Bulle aus Bronze sich wütend in die Pflastersteine stemmt. Die
Schluchten, die sich zur Wall Street und Beaver Street ausweiteten, ließen den Sternenhimmel, hoch oben, kaum erkennen. Es war, als sei die ganze Welt, die jemals existiert hatte, hier unten. Yellow Cabs drängelten sich im nächtlichen Verkehr, der nicht ganz so schlimm war wie die Blechlawine, die sich am Tage durch die Canyons aus Glas und Stein und Stahl schob.
    Scarlet schnappte nach Luft.
    Sie fühlte ihre Kräfte schwinden.
    Keiner der Passanten beachtete sie. Da waren Paare, eng umschlungen, und eilig aussehende Yuppies, wilde Nachtschwärmer, hungrig nach den Sensationen im Neonlicht. Scarlet war ein Niemand, eine Unbekannte, ein farbloses Gesicht in der Menge – sie war nur eine junge Frau in einem seltsamen bunten Mantel, die sich gegen den kalten Charging Bull lehnte. Eine Frau, die niemanden etwas anging.
    Ja, genau das war die Stadt.
    Keiner beachtete den anderen. Niemand hielt an, nicht für jemand anderen.
    Allein, allein, allein.
    Sie erhob sich, lief weiter, immer und immer nur weiter.
    Das Heulen wurde lauter. Es wehte hinter ihr her wie ein Echo der Dinge, die ihr bevorstanden.
    Scarlet Hawthorne rannte nordwärts, ohne anzuhalten. Sie rannte, bis sie ein Straßenschild mit der Aufschrift Broadway Lafayette Street hinter sich ließ. So viele Dinge schossen ihr durch den Kopf, so viele Fragen.
    Sie spürte einen Wind aufkommen, kälter als Eis. Sie sah die Reklametafeln, die Weihnachten ankündigten, Plakate, die zuckersüße geringelte Speisen und sprechende und tanzende Weihnachtsmänner mit roten Nasen und Wangen
und flauschigen Bärten anpriesen. Die Bilder rasten an ihr vorbei, und als sie in ein Schaufenster blickte und zum ersten Mal bewusst ihr Gesicht wahrnahm, da erschrak sie erneut. Ein blutiger Kratzer lief quer über ihre Stirn. Sie tastete danach und erbebte innerlich. Es fühlte sich an – und es sah auch so aus -, als habe ihr etwas mit einer scharfen Kralle diese Wunde zugefügt.
    Das Heulen folgte ihr auf eisigen Winden.
    Sie nahm all ihre Kräfte zusammen.
    Und rannte.
    Scarlet Hawthorne lief um ihr Leben, jenes fremde, weit entfernte Leben, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte. Sie lief und lief und strandete schließlich am Washington Square. Schneeflocken wehten durch die Nacht. Sie wurden dick und fest und sahen aus wie kleine Fetzen verlorener Watte. Sanft flochten sie sich in ihr Haar, legten sich auf den bunten Mantel, betupften ihn.
    Das Heulen war dicht hinter ihr.
    Irgendwo in der Straße, aus der sie gerade gekommen war. Sie stürzte kopflos in den spärlich beleuchteten Park und strauchelte vor einer mächtigen Hecke, die sich zwischen den Gerippen hoher Bäume erstreckte. Erst als sie im fahlen Licht der wenigen Laternen den gewundenen Weg aus nahezu festgetretenem Schnee entlanglief und vor der Hecke anhalten musste, um nach Luft zu schnappen, fiel ihr auf, dass sie sich schon wieder in eine menschenleere Gegend flüchtete.
    Das Heulen wurde laut wie berstender Stein.
    Nein, selbst die Passanten in den Straßen würden sie vor dem, was ihr da auf den Fersen war, nicht schützen können. Sie wusste es. Es war mit dunkler Farbe in den feinen

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