Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Fällen Blüten und Samen von Alant.«
Scarlet betrachtete die gelben Blütenblätter.
»Im frühen Mittelalter verwendete man Alant, um schleichende
Krankheiten, die einem von Nachtalben angezaubert worden waren, zu heilen. Und auch die Pflanze, die Odysseus angeblich verwendete, um sich gegen den Zauber der Circe zu wappnen, wird oft als Alant interpretiert.«
Scarlet rannte mir hinterher, gemeinsam mit den anderen. »Keine Sorge, ich kenne den Weg«, wiederholte ich.
Hört, hört, sagte Buster. Und dann, an der nächsten Kreuzung: Nach rechts, Anthea, nach rechts.
Freches Biest!
Ich fuhr fort, unbeirrt: »Bleibt noch Aaronstab oder Natternwurz, wie man in manchen Gegenden sagt. Eine Pflanze, die man kleinen Kindern in die Windel steckte oder unters Bett legte, um sie vor nächtlichen bösen Träumen zu schützen. Manche Völker gruben sie gar vor der Türschwelle in den Boden, um böse Geister fernzuhalten.«
»Aber was haben all diese Pflanzen mit den Eistoten zu tun?«
»Gute Frage, Miss Scarlet.«
»Das sagen Sie oft. Gute Frage , meine ich.«
»Ich weiß, ich weiß. Das passiert … zuweilen.« Ich streichelte Busters Kopf und ging weiter. »Alle diese Pflanzen sind ein wirksamer Schutz gegen schlimme Träume.« Der nächste Korridor war der richtige, man konnte es förmlich spüren. »Bisher ist das die beste Spur, die wir haben. Es wurden bei allen Opfern Mittel zur Abwehr böser Träume und hungriger Traumwesen gefunden. Das kann doch kein Zufall sein, oder?!«
»Fragen Sie nicht mich«, entgegnete Scarlet.
»Und wann sucht jemand Schutz vor seinen Träumen?«
Kurzes Schweigen.
»Sie meinen, die Opfer haben sich vor ihren Träumen gefürchtet?«
Ich nickte ihr zu. »So sehr, dass sie sich mit den Amuletten zu schützen versuchten.«
»Aber was sollte ihnen denn in ihren Träumen zustoßen?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Träume sind selten so harmlos, wie es den Anschein hat , bemerkte Buster.
Scarlet berührte das Amulett, das sie selbst um den Hals trug. »Was hat das alles mit mir zu tun?«
Vor uns tauchte ein Fahrstuhl auf.
Ich ergriff ihre Hand. »Kommen Sie, ich stelle Ihnen jemanden vor.«
Der kleine Fahrstuhl, der weniger elegant aussah als jener, den Scarlet und Jake genommen hatten, um in den siebenten Stock zu gelangen, öffnete mit einem mechanischen Geräusch seine Türen. Ein Uhrwerkmensch stand darin und nickte uns klickend und surrend zu.
Scarlet sah nicht so aus, als habe sie diesen Uhrwerkmenschen jemals zuvor gesehen.
»Das Dakota«, erklärte ich ihr, »hatte viele berühmte Bewohner.« Ich nannte nur einige der Namen. Lauren Bacall, Boris Karloff, Leonard Bernstein, Judy Garland, José Ferrer. »Manche davon leben noch immer hier.« Ich deutete zu dem Uhrwerkmenschen. »Niemand wollte sich in die Karten schauen lassen. Die Stars und die Berühmtheiten wollten ihre Geheimnisse in sicherem Gewahrsam wissen. Deswegen wurden die Uhrwerkmenschen konzipiert.«
Der Uhrwerkmensch trug eine Maske aus Blech, die wie ein menschliches Gesicht geformt war. Anstelle der Augen waren zwei Uhren mit Zeigern, die sich unaufhörlich drehten, in das Gesicht eingelassen.
»Ich grüße Sie«, sagte der Uhrwerkmensch. Die Rädchen
und Scharniere in seinem Körper surrten geschäftig, wenn er sich bewegte.
»Hallo«, sagte Scarlet.
»Wie geht es Ihnen?«
»Gut«, antwortete Scarlet, ohne zu überlegen.
»Sie wirken heute nicht verärgert.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ihre Wunde ist verheilt«, stellte der Uhrwerkmensch fest.
Scarlet wusste nicht recht, was er damit meinte. »Woher kennen Sie mich?«
»Sie sind so höflich«, stellte der Uhrwerkmensch fest. »Das waren Sie auch gestern schon.«
»Gestern?«
»Ja, gestern.« Die Zeiger in seinen Augen drehten sich mit einem Mal noch schneller. »Möchten Sie die genaue Uhrzeit wissen, wann wir einander begegnet sind?« Er sagte sie ihr. »Sie haben mich gefragt, ob es mir gut geht. Das tun die Gäste sonst nie.«
Scarlet schluckte. »Wir sind einander begegnet? Gestern?«
Der Uhrwerkmensch nickte, nannte ihr die Uhrzeit ein zweites Mal.
»Wo?«, fragte Scarlet.
»In diesem Fahrstuhl. Sie sind am frühen Morgen aufgetaucht und nach oben gefahren. Ich habe Sie gefragt, weshalb Sie den Bedienstetenaufzug nehmen. Und Sie haben geantwortet: Fragen Sie nicht .«
Scarlet stutzte. »Sie meinen, ich bin hier gewesen?«
»Ja.«
»Aber das ist …«
»Sie wollten zu Master Van Winkle, das haben Sie mir gesagt. Es sei wichtig. Ich
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