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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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leer, die Augen auf Dinge gerichtet, die weit entfernt sein mussten. Niemand schenkte uns Beachtung. Dabei waren wir eine illustre Gruppe von seltsamen Gestalten: der junge Jake Sawyer, der wie ein Hafenarbeiter wirkte und müde durch den Schnee stapfte, daneben Scarlet Hawthorne mit dem bleichen, markant entschlossenen Gesicht, gekleidet in ihren bunten Flickenmantel, und dann noch meine Wenigkeit, ein bisschen hexenhaft, mit einem müde aussehenden Buster Mandrake auf der Schulter.
    Nun ja, das ist die Stadt.
    New York, New York.
    Wie in dem Lied.
    Niemand kümmert sich um den anderen.
    »Und du?«, fragte sie Jake nach einer Weile. »Warum hilfst du mir?«
    Jake grinste breit und sah mit seinem Dreitagebart verwegen aus wie ein Schurke. »Ich bin eben ein netter Kerl. Ich neige dazu, jungen hübschen Frauen, die sich in Not befinden, zu helfen.«

    »Hübsch?« Sie zog eine Augenbraue hoch, nur die linke.
    »Habe ich hübsch gesagt?«
    »Ja, hast du.«
    »Bist du dir sicher?«
    »Ja, bin ich.«
    Er zwinkerte ihr zu. »Ich wollte nur etwas Nettes sagen.«
    »Das ist jetzt aber kein Kompliment«, erwiderte sie.
    »War auch nicht als eines gedacht.«
    »Sondern?«
    »Es ist, wie es ist.« Er schob sich die Brille zurecht. »Eine Feststellung, wenn du so willst.«
    »Ach so.«
    »Hey, ich wollte nur sagen, dass …«
    »Dass du jungen hübschen Frauen gern hilfst.«
    Er grinste. »Ja.«
    »Und das tust du andauernd.«
    »Oft«, sagte er und kratzte sich am Kinn, »ja, ziemlich oft.«
    »Wenn du nicht gerade Dinge tust.«
    Er musste lachen. »Dinge, ja.«
    Scarlet steckte ihre Hände in die Taschen des Mantels. »Okay, dann bin ich ja beruhigt.«
    Buster Mandrake, der das Gespräch belauschte, schwieg. Seine Knopfaugen blinzelten mir nur zu, und ich ließ dieses Zwinkern, wie so oft, unkommentiert.
    »Es geht hinab«, verkündete ich, als wir endlich die Treppe erreichten.
    Vor uns tauchte die Station auf.
    Menschen strömten in die Unterwelt, und die Unterwelt gab Menschen frei. Alle drängelten sie, alle hatten sie es eilig, alle schauten sie nicht in die Gesichter der anderen. Mehr noch, sie gaben sich alle Mühe, derartige Blicke zu vermeiden,
als hätten sie Angst, Dinge sehen zu müssen, die viel zu sehr Spiegel und allzu wenig Perfektion wären.
    New York, New York.
    »Es steckt mehr hinter alledem«, sagte ich. »Dass wir uns getroffen haben. Es gibt selten Zufälle, so heißt es doch. Dinge passieren und ziehen andere Dinge an. Was wir tun, hinterlässt Spuren, in die andere treten und tun, was dann wohl ihre eigene Bestimmung ist. Aber alles, junge Miss Scarlet, ist miteinander verknüpft. Ein Schritt ergibt den nächsten.« Ich seufzte. »Dummerweise erkennt man in den meisten Fällen erst zu spät, wie das Muster aussieht.«
    Es war nicht schwierig zu erahnen, woran Scarlet dachte. Die Wendigo, die Vergangenheit, die man ihr genommen hatte. Die Verlorenheit und die eisig kalte Winterstadt.
    »Du siehst müde aus«, sagte Jake zu ihr.
    »Sieht nur so aus«, erwiderte sie und reckte das Kinn.
    Dann begaben wir uns hinab in die Subway-Station 72nd Street . »Dort befindet sich ein Siding, das wir bedenkenlos nehmen können«, erklärte Jake, der seine Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte, selbst hier unten in der neonlichterhellten Tiefe.
    »Was ist das?«
    »Ein Siding«, begann er geduldig, »ist ein Rangier- oder Abstellgleis. Dort befindet sich ein Übergang in die uralte Metropole von New York.« Und dann übernahm es Jake Sawyer, ihr das Nötigste zu erklären.
    Niemand wusste, was vor den ersten Siedlern dort unten gewesen war, aber mit den Siedlern hatte sich die Welt unter den Straßen der großen Stadt mit Leben gefüllt. Jede Avenue, jede Straße, jeder Fluss, jeder Hinterhof und jeder Park fand dort unten sein Echo. Es war, als habe sich die
Stadt selbst geträumt, als erfände sie sich immer wieder aufs Neue, als erwachten all die Gedanken und all der Glaube hier unten zu neuem Leben. Es gab Wesen in den Tiefen jenseits von TriBeCa und Soho, an die man in seinen kühnsten Träumen nicht zu denken wagte. Darunter die Wölfin Roms, die Monster Moskaus, die Sphinxe von Paris, die Kolibris von Madrid, die gefiederten Schlangen Neu-Mexikos. Wilde Götter, einst in den alten Kontinenten daheim, waren mit den Menschen in die neue, ach, so neue Welt gekommen. Es gab Wege, die gleichsam von einem Land ins nächste führten. Gewisse Einwanderer, die sich hier niedergelassen hatten, wurden sogar geografisch

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