Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
habe Ihnen den Weg gewiesen.«
Ich schaltete mich ein. »Deswegen, Miss Scarlet, habe ich Sie hierherbestellt. Als man mich ins Dakota rief, da bin ich, nachdem mir der Eistote gezeigt worden war, durch die Korridore spaziert, um zu sehen, wohin all die Wege führten, und um herauszufinden, wer sich denn alles in diesen Korridoren herumtrieb.«
»Die Mistress hat mich gefragt, ob jemand Fremdes ins Dakota gekommen ist«, erklärte der Uhrwerkmensch. »Und ich habe mich an Sie erinnert, junge Miss. Habe ich etwas falsch gemacht?«
Scarlet schüttelte den Kopf. »Aber nein, nicht doch.« Sie stockte, fragte dann zögerlich: »Ich bin wirklich hier gewesen?«
»Sie sind zu Master Van Winkle gegangen und später, als Sie zurückkehrten, da waren Sie verletzt.«
Scarlet berührte die lange Wunde an ihrer Stirn. »Aber ich kann mich an nichts erinnern.«
»Die Wunde war ganz frisch und blutig, als Sie von Master Van Winkle zurückkehrten.«
»Ich …«
»Sie waren wütend. Ganz außer sich. Haben auf ihn geschimpft. Auf Master Van Winkle. Er würde schon sehen, was er davon hätte, Ihnen nicht zu helfen. Es würde sein Verderben sein, wenn nicht heute, dann später. Sie haben fürchterlich geflucht, als Sie in den Aufzug gestiegen sind. Sie waren wütend, weil er Sie verletzt hatte.«
Sie berührte die Wunde an ihrer Stirn, als sei sie ein schlechter Traum. »Das war Master Van Winkle?«
»Ja.«
»Aber sie ist fast schon verheilt. Wie kann das sein?«
»Sie sind nach Strawberry Fields gegangen«, sagte der Uhrwerkmensch
nur. »Dazu habe ich Ihnen geraten.« Die Zeiger in seinen Augen wanderten immer im Kreis umher.
»Verstehen Sie jetzt, weshalb ich Sie bat, ins Dakota zu kommen?«, fragte ich sie.
Ihr Geruch weht noch immer durch den Salon . Buster Mandrake blinzelte. Es besteht kein Zweifel daran, dass Sie hier gewesen sind. Sie haben Master Van Winkle einen Besuch abgestattet, und er hat Sie verletzt .
»Aber warum nur?« Ganz verloren stand Scarlet Hawthorne im Fahrstuhl und starrte den Uhrwerkmenschen an. »Warum habe ich das alles getan?« Die beiden tickenden Augen gaben ihr keine Antwort. Die Zeiger darin kreisten jetzt wieder langsamer um die güldenen Pupillen.
»Eine gute Frage, Miss Scarlet«, bemerkte ich. »Eine wirklich gute Frage.«
Ich erkannte Furcht in ihren Augen. »Was werden Sie jetzt tun?«
»Mit Ihnen?«
»Ja.«
»Ich nehme Sie mit.«
»Wohin?«
»Dorthin, wo Sie schon einmal waren.« Ich befahl dem Uhrwerkmenschen, den Fahrstuhl in Gang zu setzen. »Ja, Miss Scarlet, wir gehen hinab in die Stadt unter der Stadt.« Der Fahrstuhl sank schnell in die Tiefe. »Wir folgen Ihren Spuren.« Und bevor sie etwas erwidern konnte, fasste ich sie bei der Hand und zog sie aus dem Fahrstuhl heraus. »Auf nach Strawberry Fields!«, verkündete ich und schritt voran. »Wir gehen hinab in die uralte Metropole.«
KAPITEL 6
DAS ZEITALTER DES WASSERMANNS
Manchmal lässt das Leben einem nur die Wahl, einen Fuß vor den anderen zu setzen, zögerlich und dennoch entschlossen und trotzdem voll der Ungewissheit und des Unbehagens, weil man nicht einmal zu ahnen vermag, was einen in dem unentdeckten Land, das zu betreten man sich aufgemacht hat, erwartet. Es ist ein Gefühl der bangen Erwartung jener Dinge, die da kommen mögen, ein Hauch von Abenteuerlust, dem bittere Einsamkeit und Verlorenheit beigemischt sind, so leichtfertig wie Rosenduft im Sonnenschein, so verlockend und doch Vergänglichkeit atmend.
»Warum tun Sie das alles?«, wollte Scarlet Hawthorne von mir wissen, als wir das Dakota verlassen hatten. »Warum helfen Sie mir?«
Schneeflocken wirbelten durch den Tag, und die hellgrauen Wolken hingen wie Träume über der Stadt, so tief, dass selbst die kleineren Wolkenkratzer mit all ihren kunstvollen Dächern darin verschwanden.
»Vielleicht nur deswegen«, antwortete ich knapp, »weil mir damals niemand geholfen hat, als ich in Not war.«
Scarlet wirkte neugierig. »Was ist Ihnen denn widerfahren?«
»Das, Miss Scarlet, ist eine Geschichte, die ein andermal erzählt werden will, aber nicht heute«, sagte ich nur und schritt voran. »Nein, nein, bestimmt nicht heute.« Ich blickte nach vorn, nicht zurück. Nie, nie wieder zurück, das hatte ich mir einst geschworen.
Scarlet gab sich vorerst mit dieser Antwort zufrieden, und das war gut so.
Wir gingen den Gehweg entlang, zurück zur nächsten Subway-Station.
Die Menschen strömten an uns vorbei, und allesamt waren ihre Gesichter
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