Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
zu einem Teil der unterirdischen Welt. Selbst das Labyrinth des Minotaurus, so munkelte man, sei mit den Schiffen aus Griechenland hierhergekommen. Es gab römische Viadukte dort unten, russische Paläste, finstere und endlose Wälder in den tiefsten Tiefen unter der Stadt.
Wenn es irgendwo einen Ort gab, an dem Wunder und Rätsel und vergessene Wesen ihre Zuflucht gefunden hatten, dann dort unten.
Während wir die Tunnel entlanggingen, erzählte Jake Scarlet fasziniert von den verschlungenen Pfaden Neu-Amsterdams, von Greenwich mit seinen Geschäften und Kneipen. Da waren Deep Lower Manhattan, die Hudson Märkte und die 5th Avenue Downtown mit ihren missgestalteten Zeitungsjungen.
Er berichtete von Dingen, die sich allesamt wie Wunder anhörten: von den Maulwurfsmenschen der Great Central Station und den Cherokee-Händlern, deren Schiffe noch immer vor Liberty Island ankerten. Von den Sonnenschlangen, die drüben in den Katakomben von Queens hausten,
und von Salzwürmern, die man im Schlick der Abwasserkanäle fand.
»Es ist gefährlich dort unten«, warnte er sie, »nicht jeder beschreitet die Pfade wohlgemut.«
»Aber dieses Siding hier ist sicher?«
»Ja«, antwortete Jake. »Strawberry Fields ist sicher.«
Scarlet ging an einem Obdachlosen vorbei, beinahe hätte sie ihn übersehen. Er saß am Rand des Tunnels, und die Menschen strömten an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten.
Sie wollten ihn nicht sehen. Er war alles, was sie nicht sein wollten, so viel war klar.
Der Mann war alt. Ein dichter Bart voller Läuse verdeckte einen Großteil seines faltigen Gesichts. Seine Kleidung, die kaum mehr als Fetzen und Lumpen war, roch scheußlich. In seinem Schoß ruhte eine Pflanze. Eine Yukka-Palme, die er wohl im Müll gefunden hatte. Die Pflanze sah ausgetrocknet aus. Ihre Blätter waren braun und gelbgrün mit zerfransten Rändern.
Scarlet blieb stehen.
Wir alle taten das.
Doch nur Scarlet kniete sich vor den Mann, der nach Pisse und Schlimmerem stank.
»Sie ist traurig«, sagte Scarlet leise.
Der Obdachlose richtete seinen Blick auf sie. Er war es nicht gewöhnt, dass sich jemand um ihn kümmerte. Er hatte es wohl selten erlebt, dass jemand bei ihm verweilte. »Sie hat einmal in einem Zimmer gestanden.« Die Stimme des alten Mannes war rau, und sein Atem roch nach Alkohol. Womöglich war er gar nicht so alt, wie er aussah. Der schwere Geruch von Leim haftete der Jacke an, die er trug. »Einem Zimmer in einer schönen Wohnung.« Er berührte die Pflanze
mit knorrigen und gelben Fingern, unter deren Nägeln schwarz der Dreck steckte. »Wir haben sie gegossen.« Er hus tete. »Meine Frau und ich und …« Er senkte den Blick und berührte die braunen Blätter, als seien sie noch lebendig. »Eine andere Welt war das. Ohne das hier, das alles, dieses Durcheinander.« Er wedelte hektisch mit der Hand herum und warf den vorbeieilenden Passanten verwirrte Blicke zu. Dann schaute er Scarlet an. »Was willst du von mir, Mädchen?« Wut und Zorn wurden plötzlich in der Stimme geboren. »Ich brauch dein Mitleid nicht.« Er hielt die Pflanze fest im Arm. »Ich bin ein Ritter, ja, das bin ich, und die Pflanze hier, sie ist mein heiliger Gral.«
Scarlet nickte nur.
Dann streckte sie die Hand aus und berührte die Pflanze.
»Das ist mein Gral!«, schrie der Obdachlose plötzlich und zog die Pflanze von ihr fort. »Da ist mein Leben drin. So trage ich es mit mir herum. Such dir deinen eigenen Gral. Der hier war schon immer meiner… ja, meiner und …« Er hielt inne, starrte die Pflanze an.
Die knittrigen Blätter füllten sich mit einem tiefen Grün, als habe die Pflanze neuen Mut gefasst. Die schmalen, flachen Blätter streckten sich, als seien sie aus einem tiefen Schlaf erwacht.
Der Obdachlose berührte die Blätter, streichelte sie zärtlich. Tränen standen ihm in den Augen. Er öffnete den Mund, leckte sich über die fauligen Zähne, suchte nach Worten.
Scarlet erhob sich. Sie sah traurig aus. Doch sie lächelte.
»Ich hab’ nicht immer nach Pisse gerochen«, sagte der alte Mann nur. Dann weinte er.
»Sie ist froh, dass sie bei Ihnen ist.« Scarlet biss sich auf die Lippe. »Sie sind ihr Zuhause.«
Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging fort. So schnell lief sie, dass wir uns beeilen mussten, um sie nicht zu verlieren. Ihre Stiefel klapperten auf dem Asphalt. Sie rannte weiter in den Tunnel hinein, tauchte in die Menschenmenge ein und war auf einmal verschwunden. Nur hin und wieder sah man die
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