Die Urth der Neuen Sonne
ich, sie müsse zu Eis erstarren, bevor die Neue Sonne käme; so schnell ich meinen Stern auch zu mir lenkte, er war so fern, daß ganze Zeitalter vergingen, bis er unsre Welt erreichte. Dann merkte ich, daß ich in keiner mir bekannten Zeit war, und dachte schon, ich müßte ewig warten. Jetzt sehe ich …«
»Du strahlst übers ganze Gesicht, wenn du davon sprichst«, warf die kleine Tzadkiel ein. »Ich weiß, daß du für einen Wundertäter gehalten worden bist. Du wirst die Neue Sonne bringen, ehe du dich schlafen legst.«
»Wenn das geht, ja?«
»Und du willst, daß ich dir helfe.« Sie betrachtete mich mit einer Miene, die so ernst war, wie ich sie kein zweites Mal an ihr sehen sollte. »Ich bin oft Lügner gescholten worden, Severian, aber ich würde dir helfen, wenn ich könnte.«
»Doch du kannst nicht?«
»Ich kann dir nur dies sagen: Madregot fließt von der Glorie von Yesod«, – sie deutete den Bach hinauf –, »zur Vernichtung von Briah, da hinunter.« Sie deutete abermals. »Folg dem Wasser, und du kommst in eine Zeit, die der Ankunft deines Sterns näher ist.«
»Wenn ich nicht da bin als Lenker – aber zugleich bin ich der Stern. Oder war’s zumindest. Ich kann nicht … Es ist, als wäre ein Teil von mir taub.«
»Du bist jetzt wohlgemerkt nicht in Briah. Du wirst deine Neue Sonne wiedererkennen, wenn du dorthin zurückkehrst – falls sie noch existiert.«
»Sie muß!« sagte ich. »Sie – ich – wird mich brauchen, wird meine Augen brauchen und Ohren, um zu erfahren, was auf Urth geschieht.«
»Dann wäre es am besten«, bemerkte die kleine Tzadkiel, »nicht zu weit den Bach hinunter zu gehen. Ein paar Schritte vielleicht.«
»Als ich hierherkam, konnte ich ihn nicht sehen. Vielleicht bin ich keine gerade Strecke gegangen.«
Die kleinen Schultern hoben und senkten sich, daß auch die kleinen vollkommenen Brüste hüpften. »Dann kann man nichts dazu sagen, was? Diese Stelle ist also so gut wie jede andere.«
Ich stand auf und überlegte, wie ich den Bach zuerst gesehen hatte. »Er verlief rechtwinklig zu meiner Schrittrichtung«, erklärte ich. »Nein, ich denke, ich gehe lieber ein paar Schritte in Strömungsrichtung, wie du vorschlägst.«
Auch sie erhob sich mit einem Satz. »Man weiß nie, wie weit einen der nächste Schritt trägt.«
»Ich habe einmal eine Fabel von einem Hahn gehört«, begann ich.
»Der Mann, der sie erzählte, meinte, es sei nur eine alberne Geschichte für Kinder, aber es steckte, denke ich, trotzdem allerhand Weisheit darin. Sieben, hieß es dort, sei eine Glückszahl. Acht führte den kleinen Hahn zu weit.« Ich tat sieben Schritte.
»Siehst du etwas?« fragte die kleine Tzadkiel.
»Nur dich, den Bach und das Gras.«
»Dann mußt du von ihm wegtreten. Aber spring nicht drüber, oder du landest an einem andern Ort. Geh langsam!«
Ich wandte dem Bach den Rücken zu und tat einen Schritt.
»Was siehst du jetzt? Schau dir die Grashalme bis zu den Wurzeln an.«
»Dunkelheit.«
»Dann noch einen Schritt.«
»Feuer – ein Funkenmeer.«
»Noch einen!« Sie flatterte neben mir wie ein bunter Drachen.
»Nur Halme wie von gewöhnlichem Gras.«
»Gut! Jetzt einen halben Schritt.«
Ich rückte vorsichtig weiter. Während unsres ganzen Gesprächs in der Wiese hatte Halbschatten über uns gelegen; nun hatten scheinbar schwärzere Wolken die Sonne bedeckt, so daß ein dunkler Streifen vor mir lag, der nicht breiter als mein ausgestreckter Arm, aber finster war.
»Was jetzt?«
»Dämmerlicht vor mir«, erklärte ich. Und dann, obwohl ich’s mehr fühlte, als sah: »Eine dunkle Tür. Muß ich eintreten?«
»Das mußt du entscheiden.«
Ich beugte mich näher, und mir war, als läge die Wiese schräg, wie ich sie von meinem Unterstand auf dem Berg aus gesehen hätte. Obwohl nur drei Schritte hinter mir, klang das muntere Gemurmel des Madregots ganz fern.
Verschwommene Lettern tauchten in der Dunkelheit auf; es dauerte einen Moment, bis ich merkte, daß sie verkehrt waren und daß die größten meinen Namen darstellten.
Ich trat ins Halbdunkel hinein, womit die Wiese verschwand. Nacht nahm mich auf. Meine tastenden Hände fühlten Stein. Ich drückte dagegen, und er gab nach – zögernd zunächst, dann schwungvoll, wohl aber mit der Trägheit großer Masse.
Wie dicht an meinen Ohren vernahm ich Tzadkielchens glockenhelles Lachen.
Severian aus seinem Zenotaph
Ein Hahn krähte; und als der Stein aufging, sah ich den Sternenhimmel mit dem
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