Die Urth der Neuen Sonne
auftauchende Fremdling es auf mein Leben abgesehen hatte. Ich hielt inne, lauschte und zog die Pistole.
Das leise metallische Geklapper verstummte gleichzeitig mit mir, dann hob es wieder an, flott und unregelmäßig: hastige, stolpernde Schritte. Einmal gab es ein Klirren wie von einem fallenden Schwert oder Helm, und nach einer neuerlichen Pause setzten die wankenden Schritte wieder ein. Ich ging auf etwas zu, das vor etwas anderem floh, daran bestand wohl kein Zweifel. Mein gesunder Menschenverstand riet mir, ebenfalls die Flucht zu ergreifen, und dennoch wollte ich ausharren in meinem Stolz und Leichtsinn, bis ich die Gefahr erkannte.
Ich brauchte nicht lange zu warten. Einen Moment später bemerkte ich einen Mann in Rüstung unter mir, der überstürzt heraufhastete. Noch einen Moment später – es trennte uns nur noch ein Treppenabsatz – konnte ich ihn deutlich sehen; der rechte Arm fehlte ihm, und ich hatte den Eindruck, er sei abgerissen, denn ein blutender Stummel hing in Fetzen aus dem glänzenden Armstück.
Ich hatte wohl kaum einen Angriff von diesem verwundeten und verschreckten Mann zu befürchten, sondern mußte vielmehr annehmen, daß er flöhe, sollte ich ihm gefährlich erscheinen. Ich steckte meine Pistole ins Halfter, rief ihn an und fragte, was geschehen sei und ob ich ihm helfen könne.
Er blieb stehen und hob den Kopf, um mich durchs Visier zu betrachten. Es war Sidero, der zitterte. »Bist du loyal?« schrie er.
»Gegenüber wem oder was, mein Freund? Ich will dir nichts Böses, wenn du das meinst.«
»Gegenüber dem Schiff!«
Es schien blödsinnig, einem bloßen Artefakt der Hierodulen, mochte dies auch noch so voluminös sein, Loyalität zu versprechen; aber nun war freilich keine Zeit, sich mit abstrakten Begriffen auseinanderzusetzen. »Natürlich!« rief ich. »Treue bis in den Tod, wenn es denn sein muß.« In meinem Herzen bat ich Meister Malrubius um Vergebung, der einst versucht hatte, in mir einen Loyalitätsbegriff zu erwecken.
Sidero ging weiter auf der Treppe, diesmal ein wenig langsamer und ruhiger, aber immer noch taumelig. Nun, da ich ihn besser sah, merkte ich, daß die austretende dunkle Flüssigkeit, die ich für menschliches Blut gehalten hatte, viel zu zähflüssig und anstatt rot grünschwarz war. Die vermeintlichen Muskelfetzen waren Drähte und kattunartiges Gewebe.
Sidero war also ein Androide, ein Automat in Menschengestalt wie einst mein Freund Jonas. Ich machte mir Vorhaltungen, dies nicht eher erkannt zu haben; dennoch kam die Erkenntnis als Erleichterung; ich hatte genug Blut gesehen droben in der Kabine.
Mittlerweile nahm Sidero die letzten Stufen zu dem Absatz, auf dem ich stand. Schwankend blieb er vor mir stehen. In der forschen, entschiedenen Art, die man unbewußt an den Tag legt, wenn man Zuversicht einflößen will, forderte ich ihn auf, mir seinen Arm zu zeigen. Er zeigte ihn mir, und ich fuhr erschrocken zurück.
Wenn ich lediglich schreibe, daß er hohl war, so wird man – fürchte ich – meinen, daß er hohl war, wie man es von einem Knochen sagt. Eigentlich war er aber leer.
Die winzigen Drähte und die mit dunkler Flüssigkeit getränkten Faserbüschel waren aus der stählernen Umhüllung hervorgetreten. Innen war nichts, gar nichts.
»Wie kann ich dir helfen?« fragte ich. »Ich habe keine Erfahrung, wie man solche Wunden versorgt.«
Er schien zu zögern. Ich würde sagen, daß sein Visier-Gesicht nicht dazu imstande war, Gefühle auszudrücken; dennoch bemühte er sich darum durch verschiedene Bewegungen und Kopfhaltungen und das Spiel der Schatten, die seine Miene warf.
»Du mußt exakt tun, was ich dir sage. Wirst du das?«
»Natürlich«, sagte ich. »Ich gebe zu, daß ich vor gar nicht langer Zeit geschworen habe, dich eines Tages von einer Erhöhung zu stoßen, wie du mich gestoßen hast. An einem Verletzten jedoch werde ich keine Rache üben.« Dann besann ich mich, wie sehr der arme Jonas sich gewünscht hatte, als Mensch zu gelten, wofür ich und viele andere ihn auch gehalten hatten, und sogar ein Mensch zu sein.
»Du mußt mir vertrauen«, sagte er.
Er trat zurück, und seine Brust – der ganze Brustkorb – öffnete sich wie eine riesige stählerne Blüte. Innen war nichts, gähnende Leere.
»Ich verstehe nicht«, meinte ich. »Wie soll ich dir helfen?«
»Schau!« Mit der verbliebenen Hand deutete er auf die Innenfläche einer der blütenblattähnlichen Platten, aus denen sich die leere Brust zusammensetzte.
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