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Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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daß er größer war als jeder Beglückte, was stimmte; er war fast so groß wie Baldanders. Aber er war nicht so schwerfällig, sondern jung und kräftig (jung wie ich, wie ich fand, an dem Tag, als ich, mit Terminus Est bewaffnet, durch die Leichenpforte die Zitadelle verließ). Er mußte sich bücken unterm Bogen, aber folgte mir, wie man einen Jährlingsbock auf dem Markt einem Hirtenjungen folgen sieht, der ihn zahm gemacht hat und nun verkaufen möchte an eine Familie, die ihn als Festbraten mästen will.
    Der Korridor hatte die Form eines Eis, das ein Zauberkünstler auf den Tisch stellt: eine hohe spitz zulaufende Deckenwölbung, ausgebauchte Wände und eine abgeflachte Trittfläche. Die Dame Apheta hatte gesagt, daß keine Türen abführten, was auch stimmte; dafür gab es beidseitig Fenster. Dies verwunderte mich, weil ich vermutete, der Gang führe um einen Gerichtssaal in der Gebäudemitte.
    Ich sah beim Gehen links und rechts aus den Fenstern, zunächst aus einer gewissen Neugier auf die Insel von Yesod, dann mit Verwunderung ob der Ähnlichkeit zur Urth und schließlich mit Staunen. Denn schneebedeckte Gipfel und weite Ebenen wichen zurück und gaben seltsame Ansichten frei, als würde ich durch jedes Fenster in ein anderes Gebäude blicken. Da war eine weite, leere, mit Spiegeln verkleidete Halle, eine noch breitere mit Regalen, die mit Büchern vollgestopft waren, eine enge Zelle mit hohem Gitterfenster und strohbedecktem Boden und ein dunkler schmaler Korridor mit einer Flucht von metallenen Türen.
    Ich wandte mich an den Klienten und sagte: »Man hat mich erwartet, das steht wohl fest. Ich sehe Agilus’ Zelle, die Oubliette unterm Matachin-Turm und so weiter. Aber man hält dich für mich, Zak.«
    Als hätte das Aussprechen seines Namens einen Bann gebrochen, drehte er sich um, schüttelte das lange Haar zurück und funkelte mich an. Die Muskeln seiner Arme quollen hervor, als wollten sie die Haut zum Bersten bringen, während er an den Handschellen zerrte.
    Ganz automatisch trat ich neben sein Bein und warf ihn über die Hüfte, wie Meister Gurloes es mich vor so langer Zeit gelehrt hatte.
    Er fiel auf den weißen Boden, wie ein Stier in der Arena fällt, und der Aufschlag schien das Gemäuer zu erschüttern. Aber im nächsten Moment war er trotz seiner Fesseln wieder auf den Beinen und türmte in den Korridor.
     

 
Die Vernehmung
     
    Ich lief hinter ihm her und sah bald, daß seine Schritte zwar lang, aber schwerfällig waren – Baldanders war ein bessrer Läufer gewesen – und daß ihn die auf den Rücken gefesselten Hände behinderten.
    Behindert war auch ich. Ich hatte das Gefühl, an meinem lahmen Bein hinge ein Klotz, und das Wettrennen war für mich ganz bestimmt schmerzhafter als sein Sturz. Die Fenster – entweder magisch oder lediglich geschickt angelegt – zogen an mir vorbei, als ich durch den Korridor humpelte. Durch manche schaute ich absichtlich, durch andere unbewußt. Dennoch habe ich sie mir alle bewahrt in der staubigen Kammer, die hinter oder vielleicht unter meinem Verstand liegt. Da war das Gerüst, auf dem ich einst eine Frau gebrandmarkt und enthauptet hatte, ein dunkles Flußufer und das Dach eines bestimmten Grabes.
    Ich hätte über die Fenster gelacht, wenn ich nicht bereits über mich selbst gelacht hätte, um nicht in Tränen auszubrechen. Die Hierogrammaten, die das Universum beherrschten und das, was hinter dem Universum lag, hatten nicht nur einen andern mit mir verwechselt, sondern versuchten nun, mich, der ich nichts vergessen konnte, an Szenen meines Lebens zu erinnern. Dies gelang ihnen (wie mir schien) weniger vollkommen, als es mein Gedächtnis zustande gebracht hätte; denn obschon die Details stimmten, mangelte es jeder Ansicht an Feinheiten.
    Ich konnte nicht stehenbleiben oder glaubte zumindest, ich dürfe nicht stehenbleiben. Allerdings drehte ich zuletzt den Kopf und betrachtete eines der Fenster im Vorübergehen, wie ich keines so genau betrachtet hatte Es öffnete sich zum Sommerhaus in Abdiesus’ Lustgarten, wo ich Cyriaca ausgefragt und schließlich befreit hatte; und bei dieser näheren Betrachtung merkte ich schließlich, daß ich diese Orte nicht sah, wie ich sie gesehen und mir eingeprägt hatte, sondern wie Cyriaca, Jolenta, Agia und so weiter sie gesehen hatten. So gewahrte ich beispielsweise, als ich ins Sommerhaus blickte, daß jemand Furchteinflößendes, aber zugleich Gütiges präsent war jenseits des vom Fenster umrahmten

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