Die Vagabundin
den letzten Rest gemeinsam wandern. Sag mal – kenn ich dich nicht von irgendwoher?»
«Blödsinn. War noch nie in Ingolstadt.»
«Dann aus Kelheim. Oder aus Straubing?»
Zu ihrem Glück legte in diesem Moment die Fähre an, ein ziemlich kleines Boot diesmal, und die Drängelei begann von neuem. Eva ergatterte einen Platz gleich neben dem Steuermann, vom Bug her winkte ihr Anselm fröhlich zu. Sie wandte den Blick ab und starrte auf das felsige Steilufer, das rasch näher kam. Das Beste war, den tumben, maulfaulen Schneiderknecht zu spielen, bis es Anselm zu blöd wurde an ihrer Seite. Wenn da nur nicht diese Kopfschmerzen wären! Sie vertrug einfach keinen Branntwein.
Keine halbe Wegstunde später wich der mächtige Bergrücken rechts der Straße zurück und gab den Blick frei auf eine weitläufige Auenlandschaft, aus deren Dunst sich die Mauern und Türme der freien Reichsstadt erhoben. Da hing Anselm noch immer wie eine Klette an ihren Fersen und plapperte auf sie ein, ohne sich daran zu stören, dass sein Gegenüber immer wortkarger wurde. Denn je näher sie dem Stadttor kamen, umso gebannter war Eva von dem Anblick, der sich ihr bot. Sie hatte davon gehört, dass Regensburg einstmals eine der reichsten und bedeutsamsten Städte im deutschen Land gewesen sei und dass sich die dortigen Patrizier gleich dem gottlosen Volk zu Babel Wohntürme bis weit hinauf in den Himmel bauten. Eine solche Vielzahl von Türmen und Kirchengiebeln, von solch gewaltiger Höhe, hatte sie denn doch nicht erwartet. Da konnte nicht einmal die mächtige Bischofsstadt Passau mithalten. Gab es hier nicht auch die größte undberühmteste Brücke des Abendlandes? In Augenblicken wie diesen durchfuhr Eva ein Glücksgefühl, dass sie so viel von der Welt sehen durfte.
Anselm musste ihren staunenden Blick bemerkt haben, und als habe er ihre Gedanken gelesen, sagte er: «Wenn du von Norden her kommst, sieht das Ganze noch viel großartiger aus. Allein die Donaubrücke: ein steinernes Wunderwerk, das in sechzehn Bögen, mit drei Brückentürmen obendrauf, den Donaustrom überspannt.»
Er stutzte und legte den Kopf schief. «Und ich hab dich doch schon mal gesehen, ganz bestimmt. He, warte, bleib stehen.»
Grob drückte Eva die Mägde vor sich zur Seite, die wie alle hier in Richtung Zugbrücke strömten, stolperte, schlug gegen Anselms Arm, der längst wieder neben ihr war und sie festzuhalten versuchte, trat gegen dessen Schienbein und blieb schließlich stehen. «Geh zum Teufel, du falscher Scholar!», brüllte sie ihn an.
Verblüfft riss Anselm die Augen auf: «Potztausend Sack voll Enten! Das arme Waisenmädchen von den Jakobspilgern!»
Im selben Atemzug hatte er ihr den Arm auf den Rücken gedreht.
«Wo hast denn den kleinen Rotzbengel gelassen?», hauchte er Eva ins Ohr. «Unterwegs verloren? Oder hast ihn nicht mehr brauchen können, so als zünftiges Schneiderlein? Da fällt mir ein: Hatte man damals nicht nach dir gesucht, weil du deinen eignen Vater abgestochen hattest?»
Mit einem Ruck verdrehte er ihr den Arm so schmerzhaft, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Für einen Moment hielten die Menschen um sie herum inne, mit besorgtem Blick, dann eilte jeder wieder seiner Wege, wohl in der Ansicht, dass es sich hier um einen Streit zwischen zwei jungen Raufbolden handelte.
«Was krieg ich, damit ich dich nicht verrate, hier vor aller Welt?»
«Dreckskerl», zischte Eva nur.
«Gut, gut.» Seine freie Hand griff nach ihrem Hosenbund. «Dann werden wir mal die Wahrheit ans Licht bringen. Runter mit der Hose!»
«Zu Hilfe!» In ihrer Not begann Eva laut zu schreien. Schleuderte dabei den Kopf in den Nacken, wieder und wieder, verdrehte die Augen und schäumte in bewährter Weise den Speichel im Mund auf, bis er ihr aus den Mundwinkeln rann. Jetzt musste sie nur noch die Muskeln anspannen, und schon bäumte sich ihr Körper und bog sich, und die Füße trommelten auf die Erde, als sei Sankt Vitus selber hineingefahren. Sie stampfte mit den Füßen, bis es in ihrem Kopf zu schwindeln begann und ihr Schreien in heiseres Krächzen und Spucken überging.
Heiß und kalt wurde ihr mit einem Mal, und das Schwindelgefühl wurde unerträglich. Aus dem Augenwinkel sah sie die erschreckten Gesichter der Menschen rundum, bleich glänzend wie runde Monde, sah auch Anselm, der zur Seite gesprungen war, als habe er sich die Hände an ihr verbrannt, und nach kurzem Zögern das Weite suchte. «Fort mit dir, fort mit dir», brüllte sie
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