Die Vagabundin
wieder bei Kräften bist, soll Vater dich zur Ader lassen.»
«Nein!»
«Jetzt beruhig dich. Werd erst mal gesund. Niklas spinnt übrigens die Wolle für dich, der stellt sich gar nicht dumm an, auch wenn er nur die Hälfte schafft. Und der Webermeister murrt anscheinend nicht mal, er will dich wohl nicht verlieren. Na ja, sonst hätt er sich längst eine andre gesucht.»
Die sanfte Stimme Josefinas tat ihr gut, und so lauschte Eva die nächste Stunde mit halbgeschlossenen Augen, was ihre Schwester Neues aus dem Haus ihrer Herrschaft und aus der Bischofsstadt zu berichten wusste. Zum Abschied nahm Josefina sie fest in den Arm.
«Übermorgen ist Sonntag, da komm ich den ganzen Nachmittag. Und iss die Lebkuchen, du bist viel zu mager.»
Am nächsten Sonntag war Eva wieder halbwegs auf den Beinen. Zwar fühlte sie sich noch zu schwach für den Kirchgang, zumal ihre Familie zu den Leuten gehörte, die während des Gottesdienstes stehen mussten, doch schaffte sie es immerhin, ein wenig Ordnung in Stube und Küche zu bringen. Zu essen fand sie in der Vorratstruhe nur noch hartes Brot, eine Käserinde, einen halbleeren Hafen mit eingesäuerten Rüben und einen Rest Dinkel für den Morgenbrei. Sie würde dringend wieder arbeiten müssen.
Sie stellte Brot und Käse auf den Tisch, dazu das Körbchen mit den restlichen Lebkuchen. Das musste reichen für eine Brotzeit, aus den Rüben würde sie heute Abend ein Mus kochen. Dann setzte sie sich auf die Bank und starrte in den halbdunklen Raum, in den schmale Lichtschlitze durch die verschlossenen Fensterläden fielen. Sie hatte letzte und vorletzte Nacht kaum geschlafen. Albträume hatten sie gequält, sobald sie eingeschlafen war, und die immer gleichen Gedanken, wenn sie wach lag. Wie sollte es weitergehen, jetzt, wo sie wieder bei Kräften war? In der Enge des Häuschens konnte sie ihrem Stiefvater kaum aus dem Weg gehen, und immer wieder stellte sich ihr dieselbe Frage: Würde er es noch einmal wagen? Noch nie hatte sie sich so hilflos und allein gefühlt.
Das schrille Quietschen der Haustür schreckte sie aus den Gedanken. Josefina und Niklas traten mit einem Schwall kalter Luft und über und über weiß gepudert ein.
«Es hat geschneit!» Niklas’ helle Augen strahlten, während er Umhang und Mütze über der Schwelle ausschüttelte. «Darf ich nach dem Essen raus?»
«Meinetwegen», erwiderte Eva. «Wo ist …?»
Sie stockte, dann gab sie sich einen Ruck. «Wo ist Vater?»
Josefina hängte die Kleider an den Haken neben der Tür. «Mit Bomeranz in die Schenke. Ich frag mich, wovon er die Zeche bezahlen will. Für euer Essen scheint jedenfalls kein Geld da zu sein.»
Kopfschüttelnd setzte sie sich neben Eva auf die Bank. «Sieht das hier bei Tisch immer so kläglich aus?»
Eva wurde rot. Sie schämte sich, dass sie ihrer Schwester nichts Besseres vorsetzen konnte. «Ab morgen spinne ich wieder. Dann gibt der Weber auch wieder den vollen Lohn.»
«Das mein ich nicht. Es ist eine Schand, dass unser Vater auf dein sauer verdientes Geld angewiesen ist, weil er alles versäuft und verprasst. Er ist ein Nichtsnutz, ein elender Saubär! Ich schwör’s dir» – Josefina war vor Erregung aufgesprungen –, «eines Tages wird er seine Strafe bekommen. Für alles, was er getan hat.»
Evas Hände begannen zu zittern, und der Brotkanten fiel ihr aus der Hand. Ihre Schwester setzte sich wieder.
«Tut mir leid. Ich wollt dich nicht erschrecken.»
«Schon gut», murmelte Eva.
«Darf ich jetzt raus?» Niklas stopfte sich den letzten Lebkuchen in den Mund.
«Ja, geh schon.»
Als die beiden Schwestern allein waren, sprach keine ein Wort. Schließlich nahm Josefina Evas Hand und sah sie durchdringend an.
«Eva, sag mir, was wirklich geschehen ist, in jener Nacht. Du hast so laut geschrien, dass die Hoblerin aufgewacht ist. Das hat sie mir jedenfalls erzählt.»
Eva schüttelte nur den Kopf.
«Bitte, erzähl’s mir! Ich bin doch deine ältere Schwester. Hat er … hat er sich an dich rangemacht?»
Bestürzt starrte Eva sie an. Wie konnte ihre Schwester das wissen? Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Josefina war das Gleiche geschehen. Das also war das Geheimnis um sie und den Stiefvater, der Grund dafür, dass sie so Hals über Kopf das Haus verlassen hatte. Eva entzog ihrer Schwester die Hand und verbarg das Gesicht.
«Es war so furchtbar», flüsterte sie, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Als sie aufblickte, sah sie, dass auch
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