Die Vagabundin
bezahlen können. Was sie weitaus mehr anzog, war das schrille und bunte Völkchen selbst, das tägliche Treiben zwischen den Karren und Zelten auf den Uferwiesen. Dorthin zog es sie nach ihrem täglichen Gang zumWebermeister, den gleichermaßen neugierigen wie ängstlichen Niklas dicht an ihrer Seite, auch wenn ihnen das beim Heimkommen einige Male eine kräftige Maulschelle bescherte. Sie sahen den Kindern beim Üben zu, wie sie auf Händen gingen oder in atemberaubenden Saltos durch die Luft wirbelten, lauschten den Trommlern und Pfeifern, beobachteten, wie junge Hunde zu Kunststücken abgerichtet wurden. Was Eva aber am meisten überraschte, waren die Frauen und Mädchen: Wie stolz und selbstbewusst sie sich gaben! Frank und frei taten sie ihre Meinung kund, tauschten Scherzworte aus, die oft ebenso grob und unflätig waren wie die der Mannsbilder. Die Haare trugen sie offen, packten überall mit an, und vor allem ließen sie sich nichts sagen und vorschreiben. Diese Frauen standen den Männern in nichts nach!
Immer häufiger ertappte Eva sich bei Tagträumen, das unglückselige väterliche Haus für immer zu verlassen und mit den Gauklern zu ziehen. Einfach heimlich und unbemerkt abzuhauen und all das Elend hinter sich zu lassen, diese armselige, düstere Stube samt ihrem Stiefvater und dem fetten alten Bomeranz, dem sie dereinst als Frau gehören sollte! In solchen Momenten schalt sie sich selbstsüchtig und dumm: Niemals würde sie den kleinen, schutzlosen Bruder im Stich lassen, niemals ihre Schwester Josefina verlassen, den einzigen Menschen, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. So war sie beinahe erleichtert, als die Spielleute eines Tages weiterzogen.
Da erst fiel ihr auf, was sie in den Wochen zuvor vor lauter Traumtänzerei gar nicht bemerkt hatte: Josefina war plötzlich so verändert. Sie fand keine Zeit mehr für ihre gemeinsamen Sonntagsspaziergänge, und wenn sie dann einmal während ihrer Besorgungen untertags hereinschneite, legte sie irgendeine Köstlichkeit wie ein Stück Obst oder einen Kuchenrand auf den Tisch und verschwand wieder mit geröteten Wangen.
«Ich glaub, Josefina ist verliebt», sagte Niklas eines Tages.
Eva starrte ihn an. «Wie kommst du bloß auf so was?»
«Ich hab sie gestern mit dem jungen Herrn gesehen, bei Sankt Salvator, ganz allein. Sie haben die ganze Zeit so gekichert und gegackert, dass sie mich gar nicht bemerkt haben, als ich vorbei bin.»
«Bist du dir da sicher?»
«Aber ja.» Fast beleidigt schob er die Unterlippe vor.
Eva schüttelte den Kopf. Das konnte nicht wahr sein – der Lindhorn-Sohn tändelte mit seiner Dienstmagd! Da erinnerte sie sich plötzlich, wie oft schon Josefina den jungen Konrad erwähnt hatte, scheinbar am Rande, aber immer mit einem leichten Lächeln im Gesicht. Sie würde sich doch hoffentlich nicht ins Unglück stürzen? So blöd konnte ihre Schwester doch gar nicht sein, dass sie nicht wusste, dass all diese Herrensöhnchen gleich waren, sich nur ihren Spaß machten mit dem Dienstpersonal.
Es sollte noch einige Zeit dauern, bis Josefina wieder einmal sonntags nach dem Kirchgang vor Sankt Gertraud erschien. Es war Mitte Mai, und der Duft nach frischem Grün und blühenden Holderbüschen drang bis in die engen Gassen der Innstadt.
«Lässt dich auch mal wieder blicken?», knurrte ihr Stiefvater, nachdem Josefina ihn mit abweisender Miene begrüßt hatte. Als sie keine Antwort gab, hielt er sie am Arm fest.
«He, ich red mit dir! Oder bist jetzt was Bessres, dass du deinem Vater keine Antwort mehr gibst?»
«Du bist alles andre, nur nicht mein Vater», zischte Josefina gerade so laut, dass Eva und Niklas es hören konnten. Wieder einmal wünschte sich Eva, sie könnte ihrem Stiefvater nur halb so mutig die Stirn bieten wie ihre Schwester. Die wurde bestimmt von keinen Albträumen mehr geplagt. Verächtlich sahJosefina jetzt Gallus Barbierer nach, wie der in seinem schlurfenden Schritt in Richtung
Rappen
abzog, und murmelte: «Soll er sich doch zu Tode saufen.»
Ausgerechnet heute hing Niklas wie eine Klette an seiner ältesten Schwester. Dabei brannte Eva darauf, endlich mit ihr allein zu sein. Schließlich versprach sie dem Jungen ihren Anteil von dem Stück Zuckerbrot, das Josefina mitgebracht hatte, und Niklas trollte sich in Richtung Flussufer.
Josefina nahm Eva beim Arm. «Lässt dich der Alte jetzt in Ruh?», fragte sie leise.
Eva nickte nur. Sie wollte nicht daran denken und schon gar nicht darüber reden. Stattdessen
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