Die Vagabundin
blieb einer der Männer stehen und sprach sie an. Auf seinen Hut war vorne eine große Muschel genäht.
«Was seid ihr für welche?», fragte er misstrauisch. «Wie Pilger seht ihr mir nicht aus.»
Eva schluckte und presste die Augenlider zusammen, bis ein, zwei Tränen hervorquollen. Als Kind hatten die Geschwister sie um diese Kunst immer grenzenlos beneidet.
«Wir sind zwei arme Waisenkinder», erwiderte sie schließlich mit belegter Stimme. «Unsere Eltern sind von Mordbrennern erstochen worden, und unser Haus liegt in Asche.» Niklas riss erschrocken die Augen auf, und Eva trat ihm auf den Fuß. «Jetzt sind wir unterwegs zu unsrer Muhme in Straubing.»
«Gott sei den armen Seelen gnädig», murmelte der Mannund bekreuzigte sich. Sein schwarzbärtiges Gesicht wurde freundlicher. «Dann kommt nur mit uns, damit euch kein Leid geschieht. Unser Weg führt an Straubing vorbei.»
«Hättet ihr vielleicht auch eine Brotzeit für uns? Im letzten Dorf hat man uns einfach fortgejagt.»
«Aber sicher.»
Er war ganz offensichtlich der Anführer, denn auf sein Handzeichen hin und ein kurzes «Halt!» scharten sich alle um ihn.
«Wir machen eine Rast. Unsere jungen Freunde hier sind arme Waisen und völlig ausgehungert. Jeder gibt ein klein wenig ab.»
«Seid ihr überhaupt Katholische?», fragte eine hagere, grauhaarige Frau misstrauisch.
Eva schüttelte den Kopf und sah bekümmert zu Boden.
«Dann habt ihr bei uns auch nix zu suchen. Wir füttern doch keine Ketzer durch, bei dem Wenigen, was wir haben.»
«Ich dachte, wir sind fromme Leut?» Ein junger Bettelmönch, barfuß und in zerlumpter Kutte, hob seinen Wanderstab, ein mannshohes Kruzifix. «Gilt da nicht das Barmherzigkeitsgebot: Du sollst die Hungrigen speisen? Selbst mit Heiden und Mamelucken will ich mein Brot teilen. Kommt nur her, ihr beiden.»
«Recht hat er.» Der Schwarzbärtige nickte. «Wer dagegen ist, dass diese armen Kinder bis Straubing bei uns bleiben, hebe die Hand.»
Da niemand sich meldete, fügte sich auch die Frau. Eva gab sich alle Mühe, ihr ein dankbares Lächeln zuzuwerfen.
Nach zwei Tagen Fußmarsch fragte sich Eva, ob dies die richtige Gesellschaft war, um möglichst bald nach Straubing zu kommen. Vor jedem Wegkreuz, jedem Marienbildstock hielten sie inne, um zu beten, oder machten gar riesige Umwege, bergauf,bergab, zu irgendwelchen Kapellen. Dort ließen sie nach dem feierlichen Credo stundenlang den Rosenkranz durch die Finger gleiten und murmelten halblaut und immer wieder aufs Neue ihr Paternoster, Ave-Maria und Lobpreis. Davon abgesehen erging es Niklas und ihr so gut wie seit langem nicht mehr. Man begegnete ihnen halbwegs freundlich, die einen eher gleichgültig, die anderen voller Mitleid, und teilte Brot und Wasser mit ihnen. Nachts kehrten sie in Pilgerherbergen ein, wo sie gegen Gotteslohn ein sauberer Strohsack und ein einfaches Nachtessen erwartete. Nicht zuletzt war die kleine Pilgergruppe durch ihre Tracht den Gefahren der Landstraße weit weniger ausgesetzt als andere Wanderer, ihre Schutzbriefe und Pilgerpässe öffneten ihnen Tür und Tor und befreiten sie von Wege- und Brückenzoll.
Eva hatte bald erfahren, dass die meisten aus dem Bregenzer Land stammten und auf dem Weg zum Grab des heiligen Jakobus von Compostel waren. Bantelhans, ihr Gönner, hatte die heilige Stätte schon einmal in jungen Jahren aufgesucht und war daher zum Führer auserkoren. Ein paar wenige hatten sich den Pilgern unterwegs angeschlossen, wie der Bettelmönch Anselm und eine dickliche Frau mit einem steifen linken Arm. Sie waren aus den unterschiedlichsten Gründen unterwegs: Den einen war die lange Reise von den Kirchenoberen als Sühne auferlegt, andere taten diesen Bußgang aus freien Stücken oder weil sie sich vom heiligen Jakobus ein Wunder erhofften. So auch die Frau mit dem verkrüppelten Arm. Als Eva hörte, dass sie aus Passau stammte, hielt sie Abstand zu ihr, denn den Wallfahrern gegenüber hatte sie behauptet, sie kämen von droben aus den Waldbergen. Dazu hatte sie einen falschen Familiennamen genannt, zur Vorsicht, falls in den umliegenden Orten bereits nach ihr gesucht wurde. Doch sie konnte sich nicht helfen! Seit Vilshofen hatte sie den Eindruck, dass dieses Weib sie beobachtete.
Noch einem ging sie schon bald aus dem Weg: dem Bettelmönch. Irgendwas stimmte nicht mit Bruder Anselm, denn sie hatte beobachtet, wie nachlässig er jedes Mal seine Gebete herunterleierte und wie er am Vortag, nachdem sie Vilshofen
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