Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vagabundin

Die Vagabundin

Titel: Die Vagabundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
Vom Netzwerk:
es plötzlich rundum war. Nicht mal der Wind raschelte mehr in den Blättern. Schwarz und bedrohlich umgab sie derWald, als wolle er sie im nächsten Moment verschlingen. War sie völlig verrückt geworden, sich so fernab der Landstraße zu bewegen? Als es neben ihnen im Unterholz raschelte, zuckte sie zusammen.
    «Komm!» Sie packte Niklas’ Hand und eilte den schmalen Waldweg zurück.
    «Eva», flüsterte Niklas. «Ich hab Angst.»
    «Musst keine haben.» Dabei zitterte ihr selbst die Stimme. «Bete nur zu deinem Namenspatron. Er schützt die Kinder, Alten und Schwachen.»
    Endlich fanden sie die gesuchte Abzweigung und stolperten den holprigen Pfad talwärts. Nie wieder durfte sie sich und den Bruder in solch unnötige Gefahr bringen. Sie würden sich einer Gruppe Wanderer anschließen müssen, wollten sie ihr Ziel heil erreichen.
    Als der Wald sich lichtete und sie vor sich im Dunst das glänzende Band der Donau entdeckten, verlangsamte Eva ihren Schritt und klaubte vom Wegrand ein paar Äpfel für unterwegs auf. Da erst merkte sie, dass ihr kleiner Bruder am Ende seiner Kräfte war.
    «Schau, da vorn beim Kreuz ist ein Fahrweg. Da setzen wir uns hin und warten, bis jemand vorbeikommt.»
    Erschöpft ließen sie sich ins Gras am Wegrain sinken, Niklas im Arm seiner Schwester, und schlossen die Augen. Kein Ave-Maria später waren sie beide eingeschlafen. Als lautes Geschnatter sie weckte, stand die Sonne längst nicht mehr im Mittag. Ein barfüßiger, braungebrannter Bauernjunge in Niklas’ Alter betrachtete sie neugierig inmitten seiner Schar Gänse.
    Eva richtete sich auf. «Wie weit sind wir von Passau?»
    «Drei, vier Wegstunden wohl.»
    Eva war enttäuscht. Da waren sie nicht allzu weit gekommen.
    «Hast du Brot?»
    Der Junge schüttelte den Kopf. «Dort drunten, an der Straße nach Vilshofen» – er deutete Richtung Donau   –, «gibt’s einen Flecken mit einem Dorfbäcker.»
    «Ist das weit?»
    «Schon.»
    «Und wo wohnst du?»
    «Da am Waldrand. Auf dem Einödhof. Aber meine Eltern gebn nix. Die lassen keine Fremden auf’n Hof.»
    Eva war drauf und dran zu sagen, dass sie Geld hätten für Brot und Unterkunft, aber dann ließ sie es bleiben. Wer sagte ihr, dass sie diesem Bengel trauen konnte?
    «Weißt du, wie weit es nach Straubing ist?»
    «Kenn ich net. Ich kenn nur Vilshofen, und von da geht’s nach Regensburg. Aber das ist ganz arg weit.»
    Sie schöpfte wieder Hoffnung. Das musste die große Handelsstraße längs der Donau sein, von der sie schon gehört hatte.
    «Komm!» Sie zog Niklas mit sich in die Höhe. «Gehn wir.»
    Der Junge nahm eine Gänsefeder von seinem Filzhut und reichte sie Niklas. «Für dich. Ich muss jetzt heim.»
    Mit Tränen in den Augen, die Feder fest in der Hand, sah ihm Niklas nach. Eva wusste genau, was ihr Bruder in diesem Moment empfand: Dieser Junge durfte nach Hause, wo Eltern und Geschwister und vielleicht ein Topf Milchbrei auf ihn warteten.
    Am späten Nachmittag erreichten sie die Handelsstraße und stießen dort auf ein Dutzend einfach gekleideter Männer und Frauen. Ihr Gewand   – Filzhut, Stab, Pilgerflasche und Reisesack – wies sie als Wallfahrer aus. Obwohl in der neuen Lehre des lauteren Evangeliums aufgewachsen, hatte Eva die Altgläubigen doch immer um ihre Mittel und Wege beneidet, sichvon ihren Sünden reinzuwaschen. Aber waren ihr auch Ablass, Reliquienverehrung und Wallfahrt verwehrt, so hatte sie doch nie den Glauben an die Macht der Mutter Gottes und sämtlicher Heiligen verloren, an die sie häufiger noch als an Gott ihre Gebete richtete. Jetzt fragte sie sich, ob sie sich nicht am besten diesen Menschen anschließen und mit ihnen an ihre heilige Stätte wandern sollte. Hatte sie nicht eine Todsünde begangen? Auch wenn ihr Stiefvater vielleicht nur verletzt war – als Bader wusste er sehr wohl eine Stichwunde zu behandeln   –, so hatte sie doch im Augenblick der Tat den einzigen Wunsch gehabt, ihn zu töten. Aber ergab es Sinn, Gott um Verzeihung zu bitten, wenn sie doch nicht den geringsten Funken Reue empfand? War es vielleicht das, was ihre Mutter auf dem Sterbebett gemeint hatte? Ganz deutlich hörte sie wieder deren Worte an sie:
Ich mach mir solche Sorgen um dich, Eva – du bist so anders als meine anderen Kinder.
War sie das wirklich? Fehlten ihr vielleicht Demut, Bescheidenheit und Gottesfurcht – all die Tugenden, die ein gutes Weib ausmachten?
    Nachdem sie der Gruppe eine Zeitlang in gebührendem Abstand gefolgt waren,

Weitere Kostenlose Bücher