Die Vagabundin
sie nachts von bösen Träumen geplagt wurde. Mal jagten Wegelagerer Niklas und sie über verschneite Bergpfade und sie kamen nicht vom Fleck, mal sah sie ihren Stiefvater vor sich, wie er mit klaffenden, blutenden Schnittwunden auf sie losging. Und immer häufiger träumte sie von Josefina, die ein winziges verhungertes Wesen mit sich herumschleppte und laut wehklagte. Wenn Eva dann erwachte, quälte sie das Gefühl tiefer Schuld. Niemals hätte sie ihre Schwester allein gehen lassen dürfen. So, wie sie nun mit Niklas durch die Fremde irrte, hätten sie ebenso gut damals mit Josefina gehen können, sich gegenseitig helfend und beschützend. Und wer weiß: Vielleicht hätten sie es gemeinsam sogar bis Straßburg geschafft, zu ihrem ältesten Bruder.
Aber nein, damals war sie zu feig gewesen, viel zu feig!
So verging die Zeit in diesem kleinen Bergdorf, und der Winter schien kein Ende zu nehmen. Als im neuen Jahr steter Frost wenigstens die Wege zu den Nachbardörfern begehbar machte, begann Edelman die umliegenden Höfe abzuklappern, um sich Arbeit nach Hause zu holen. Hin und wieder nahm er Eva mit, gegen die heftigen Proteste seiner Schwester.
«Soll ich die Weißwäsche, die Eva näht, etwa alleine schleppen?», fragte er schnippisch.
«Kannst ja den Handkarren nehmen.»
«Und über die Schneewege zerren? Nein, das kommt nicht in Frage. Überhaupt – was machst du mir solche Vorschriften?»
Im Gegensatz zu dem ahnungslosen Wenzel Edelman wusste Eva genau, warum dessen Schwester sie nicht mitgehen lassen wollte. Dabei hätte sie ihr am liebsten offen ins Gesicht gesagt, dass ihr der Sinn nach allem anderen stand als danach, ihre weiblichen Reize zu erproben. Im Gegenteil: Die Veränderungen, die in diesem Winter ihr Körper erfuhr, verunsicherten sie zutiefst. Es gab Tage, da hätte sie sich am liebsten in Sack und Asche gehüllt. Wie konnte die Hausherrin an so etwas nur denken? Hinzu kam, dass der Schneidergeselle in Evas Augen viel zu alt war. Nichtsdestoweniger mochte sie ihn inzwischen umso mehr. Ihr gefiel es, wie selbstvergessen er sich in seine Arbeit versenkte oder wie ruhig und freundlich er mit den Kindern umging. Und dass er so gar nichts von dem üblichen großmäuligen Gehabe der Mannsbilder hatte, die Eva sonst kannte. Oftmals fragte sie sich, warum er keine neue Frau gefunden hatte. Es lag sicher nicht daran, dass er kein schöner Mann war, mit seinem leicht gebeugten Gang, dem farblosen, dünnen Haar und den Blatternnarben im Gesicht – so sahen schließlich viele Männer in seinem Alter aus. Vielleicht war er einfach zu schüchtern. Dabei war Wenzel Edelman genau der Mensch, den sie sich als Vater gewünscht hätte.
Jedenfalls war Eva froh über jeden Tag, an dem sie an Edelmans Seite aus dem Haus kam. Gerade jetzt, in der dunklen Jahreszeit, hatte sie manchmal das Gefühl, sie würde ersticken in dem kleinen Häuschen am Dorfrand. Wenn sie dann hinaustrat in die eisige Winterluft, in warmen Wollstrümpfen und dem neuen Mantel, wenn ihr Blick über die weiße Berglandschaft schweifte, die in der Morgensonne glitzerte, dann spürte sie einen Hauch von Glück. Wie herrlich war es, diesen Duftnach Tannenholz und Schnee einzuatmen, in der Stille der verschneiten Wiesen und Wälder nur das Knirschen der eigenen Schritte zu hören, um dann ein, zwei Stunden später in einer wohlig beheizten Küche einzukehren. Meist erwartete sie dort neben einem Korb voll Wäsche und Kleidung ein Krüglein heißer Kräuterwein.
Wenzel Edelman war allseits beliebt und willkommen. Die Leute hier schätzten nicht nur seine Arbeit, sondern auch seine besonnene Art, und so wurde er nicht selten bei allen möglichen Angelegenheiten um Rat gefragt. Auf dem Heimweg dann besprach er sich mit Eva über diese Dinge wie mit einer erwachsenen Frau. Einmal hatte ihn einer der Bauern gebeten, Taufpate seines Nächstgeborenen zu werden, aber Edelman hatte mit aufrichtigem Bedauern abgelehnt. Einer wie er, der die meiste Zeit im Jahr unterwegs sei, tauge nicht für diese verantwortungsvolle Aufgabe. Eva glaubte einen Anflug von Wehmut aus seinen Worten herauszuhören, und so fragte sie ihn, als sie sich wieder auf den Heimweg machten:
«Warum lebt Ihr eigentlich hier in diesem abgeschiedenen Weiler und verdient Euer Brot auf der Stör? Warum geht Ihr nicht nach Bodenmais, als zünftiger Schneider? Da hättet Ihr Eure Familie immer um Euch.»
«Ganz einfach: Weil die Zunft dort keinen reinlässt. Aber glaub mir, so schlecht
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