Die Vagabundin
da, wie sie ihn verlassen hatte – reglos, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf. Sie nahm ihn bei der Hand.
«Mach die Augen wieder auf, Igelchen. Es ist vorbei.»
Stumm marschierten sie weiter, bis sie an eine Weggabelung gelangten. Der Hauptweg schob sich weiter durchs Tal, linker Hand schlängelte sich ein schmaler Pfad längs eines Bachlaufs den Hügel hinauf. Ganz oben erhob sich eine Kirchturmspitze über den Bergkamm in den immer noch wolkenlosen Himmel.
Eva blieb stehen.
«Gehen wir in die Kirche. Wir sollten Gott danken, dass er uns vor diesen Mördern beschützt hat.»
Während sie die Treppen zum Portal der Dorfkirche hinaufstiegen, wurde ihr nach und nach leichter ums Herz. Vielstimmiger Gesang schallte ihnen entgegen, dann eine kräftige Männerstimme. Hier würde sie sicherlich Trost finden, wie schon in der kleinen Kapelle von Calmunz, vielleicht sogar den Beistand eines Beichtvaters. Denn was sie getan hatte, war ein übles, schändliches Unrecht, davon war sie überzeugt, auch wenn sie es, wie schon im Löwenwirtshaus, nicht um ihretwillen getan hatte – und der Mann ohnehin schon tot war.
Das Kirchenschiff war gut gefüllt. Auf der rechten, der «guten»Seite standen die Männer, auf der linken die Frauen mit ihren Kindern. Einige hatten sich ihren Schemel von zu Hause mitgebracht, denn die Bänke vor dem Altar waren hier wie überall für die Vornehmen und Reichen bestimmt. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, kaum einer hörte richtig zu, Hunde kläfften und rauften sich, Säuglinge quäkten.
Eva gesellte sich, mit Niklas an der Hand, zu einer Gruppe alter Weiber, die sie argwöhnisch angafften. Die Schmucklosigkeit des Gotteshauses und sein bilderloser Altar verrieten ihr sofort, dass der Pfarrer hier nach dem neuen Glauben lehrte. Keine einzige Darstellung des Gnadenstuhls, keine geschnitzte Mutter Gottes war zu entdecken. Die Fresken der Heiligen waren mit weißer Tünche zugeschmiert, nur hier und da schimmerten noch bunte Flecken hindurch. Selbst aus den Glasfenstern hatte man einige Bildnisse herausgeschnitten. Eva spürte so etwas wie Enttäuschung, erst recht, als ihr Blick auf die schlichte Holzkanzel fiel.
Dort breitete eben der Pfarrer die Arme über seine Gemeinde aus und donnerte die Worte heraus, als müsse er gegen den Lärm einer Heeresattacke ankämpfen. Er war alt, sein gelbweißer Bart hing ihm lang und wirr über den sackartigen Talar, der Schweiß stand ihm in dicken Tropfen auf der hohen Stirn.
«Wehe dem, der sich in Sicherheit wiegt, der sich von Schuld und Sünde frei fühlt: Verderbt seid ihr alle, ein jeder von euch» – die Stimme bebte jetzt vernehmlich –, «und verdammt obendrein, sofern ihr nicht fest im Glauben steht und bereut. Tut Buße, tut schmerzhafte Buße, denn sie ist die reinigende Kraft des Heiligen Geistes, um die Sünden wegzuwaschen, um Erlösung zu erlangen. Wappnet euch also gegen die Versuchung, jeden Tag, jede Stunde, denn Satan ist allgegenwärtig! Aber nicht nur Satan, auch der Antichrist ist über uns gekommen! Der Antichrist höchstselbst!»
Gleich einem Veitstänzer zuckte er jetzt an Armen und Beinen, die Augäpfel rollten hin und her. Plötzlich herrschte im Kirchenschiff Totenstille. Auch Niklas, mit offenem Mund, erstarrte.
«Aus dem Sündenbabel Roms streckt der papistische Antichrist seine eklen Fühler in alle Welt. So öffnet endlich die Augen, ihr armseligen Schafe Gottes, und erkennet: Ein kosmischer Kampf tobt zwischen Gott, Teufel und diesem Antichristen. In jedem Winkel der Welt offenbart sich uns heute dieser Kampf, in all seinen grausigen Geschehnissen: in China, wo ein Erdbeben das halbe Land verschlang, im Hispanischen mit seinem tagelangen Blutregen, in Afrika mit einer Sonne, die sich schwarz verfärbte und die Milch der Mütter zu Blut werden ließ. Nicht zu vergessen die Abertausenden von Missgeburten allüberall – kam nicht neulich erst im Nachbardorf ein Monstergeschöpf zur Welt, ganz ohne Arme und Beine, dafür mit einem Maul bis zwischen die Augen?»
Er raufte sich das spärliche Haupthaar, um sogleich wieder die Fäuste zu schütteln und weiterzugeifern:
«Ich sage euch: Das Weltende ist nahe! Das Weltende ist näher denn je, und dann wird über eure Sünden gerichtet werden! Über eure und die eurer Nachbarn, eurer Brüder und Kinder. Denn die Verderbten sind mitten unter uns. Die Satansanbeter sind unter uns und die Unholde, die Huren und die Hurenböcke, die Diebe und die
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