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Die Vagabundin

Die Vagabundin

Titel: Die Vagabundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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nämlich war mit einem Schwertstreich fast gänzlich abgeschlagen.
    Vom Magen an aufwärts krampfte sich ihr ganzer Körper zusammen und ließ sie spucken und würgen, dass sie fast erstickte. Keuchend kam sie endlich auf die Beine, zu ihren Füßen der halbzerstückelte Leichnam des Jungen. Wieder würgte es sie in Hals und Kehle, doch es troff nur noch bittere Galle aus ihrem Mund.
    Sie war schuld am Tod dieses Knaben! Wäre er in seinem Versteck geblieben, wäre er vielleicht noch am Leben. Sie allein hatte Schuld! Das Wort hämmerte in ihrem schmerzenden Schädel und ließ sie laut aufheulen. Plötzlich hielt sie inne – das Mädchen! Sie schwankte ins Innere der Hütte und fand es auf derselben Stelle wie zuvor am Boden liegen: mit zertrümmertem Schädel und zerfetztem Rock. Die gespreizten Beine gaben den Blick auf ihren nackten, blutigen Schoß frei.
    «Warum nur hast du dich gewehrt?», schluchzte Eva immer wieder, während sie aus der Schlafecke eine Decke hervorzerrte und über den Leichnam des Mädchens breitete. Dann trug sie den Körper, der leicht war wie eine Feder und dennoch so schwer, dass sie in die Knie ging, hinaus zu dem Jungen, bettete beide nebeneinander, deckte sie zu, bis nichts mehr zu sehen war von den malträtierten Leibern, zeichnete mit der Fußspitze ein Kreuz in den Sand und begann zu beten.
    Vom Weg her hörte sie Stimmen. Die Bauern kehrten zurück, und sie stand hier bei zwei Leichen, mit aufgeplatzter Stirn und die Hände bis zum Ellbogen mit Blut verschmiert. Sie musste sofort verschwinden! Jetzt erst entdeckte sie, dass auch der Verschlag aufgebrochen war und das Maultier fort. Damit war der Meuchelmörder ganz gewiss längst über alle Berge.
    Ihr Blick fiel auf den Baum nahe der Hütte. Am Stamm lehnte ihr Lederbeutel mit den Werkzeugen, als sei nichts geschehen. Dem Himmel sei Dank, er war tatsächlich noch da. Sie stolperte hinüber, sah dabei ihr Messer im Gras aufblitzen, bückte sich, riss alles an sich und rannte, so schnell sie konnte, auf ihren kraftlosen Beinen hinüber in den Wald, mitten hinein ins Unterholz. Sie rutschte bergauf, bergab, die Zweige peitschten ihr Gesicht, als wollten sie sie strafen, aus der Ferne vernahm sie irgendwann die entsetzten Schreie der Bauern.
    Immer weiter trieb es sie, immer vorwärts, bis ihr ein Fluss den Weg versperrte und sie schlaff in sich zusammensank wie ein Haufen Lumpen. Mochte man sie auch verfolgen – sie war am Ende ihrer Kraft. Warum nur hatte Sebald sie nicht gleich mitgemordet? Mit zitternden Fingern steckte sie das Messer zurück in den Schaft, dorthin, wo sonst ihre Geldkatze festgebunden war und jetzt nur noch das Lederband baumelte. Ihr Geld, ihr ganzes Vermögen, auf das sie so stolz gewesen war – auch das hatte dieser Bluthund mit sich genommen! Erschöpft schloss sie die Augen und empfand dennoch eine gewisse Zufriedenheit: So hatte sie wenigstens für ihre grenzenlose Dummheit bezahlt.
    Ihre Hand tastete nach dem Marderzahn am Hals. Dass sie überhaupt mit dem Leben davongekommen war, hatte sie gewiss nur dem schützenden Zauber von Niklas’ Amulett zu verdanken.

24
    Sie musste den ganzen restlichen Tag und die folgende Nacht wie ein Stein geschlafen haben, denn als sie erwachte, schob sich die Morgensonne eben über die Baumwipfel und ließ den Fluss vor ihr glitzern wie ein Band aus Kristallen.
    In schmerzvollen Schüben kehrte die Erinnerung zurück. Ob sie die Augen nun offen oder geschlossen hielt – stets sah sie die blutigen und geschändeten Leichname vor sich. Sie versuchte sich einzureden, dass die beiden auch ohne ihr Beisein zu Tode gekommen wären, dass auch sie selbst ein Opfer dieses Schandbuben war, aber es gelang ihr nicht.
    Obwohl ihre Glieder von der Kühle der Nacht noch klamm waren, suchte sie sich eine seichte Stelle am Ufer, streifte sich die Kleider vom Leib und stieg in die eisigen Fluten. In der Mitte des Flusses tauchte sie ein bis zum Hals, zitternd und mit klappernden Zähnen, wusch und schrubbte sich, als könne sie sich damit von aller Schuld reinwaschen. Als das kalte Wasser ihr Gesicht berührte, schrie sie auf vor Schmerz. Kaum wagte sie die Wunde auf ihrer Stirn zu ertasten, auch der Nasenrücken musste etwas abbekommen haben, und ihr linkes Auge, das merkte sie erst jetzt, war fast zugeschwollen. Wahrscheinlich sah sie grauenhaft aus!
    Unwillkürlich blickte sie sich um, lauschte auf Stimmen, auf Hufgetrappel. Aber außer ihr war keine Menschenseele in diesem

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