Die Vagabundin
gottverlassenen Stück Wald. Unter Zähneklappern holte sie ihre Siebensachen, trug sie mit erhobenen Armen quer durch den Fluss und kleidete sich am anderen Ufer an. Sie spürte eine große Leere in sich, und als sie sich langsam auf den Weg machte, fühlte sie sich ausgehöhlt wie ein fauliger Baumstamm.
Dem Sonnenstand nach marschierte sie geradewegs gegenAbend, durch eine vollkommen einsame Landschaft mit bewaldeten Kuppen, mageren Wiesenhängen und jähen Felseinbrüchen, die hier und da mit schwarzen Spalten und Löchern gespickt waren. Sie setzte Schritt vor Schritt, gleichmäßig wie das Räderwerk einer Turmuhr, ohne Furcht vor Überfällen, ohne Hunger oder Durst, überhaupt ohne jegliches Gefühl. Bald schon zog sich der Himmel schwer zusammen, und die Luft flimmerte vor Hitze, irgendwann zuckten die ersten Blitze. Doch sie marschierte weiter, ohne zu wissen, wohin, schrak nicht einmal zusammen, als Donnerschlag auf Donnerschlag die Stille ringsum erschütterte. Erst als der Regen in Sturzbächen auf sie herunterprasselte, kletterte sie in eines der Felslöcher, rollte sich auf dem sandigen Boden zusammen und schlief augenblicklich ein.
Am nächsten Tag beruhigte sich das Wetter allmählich wieder, und gegen Nachmittag führte ihr Weg sie zurück in bewohnte Gegenden. Einzelnen Köhlerhütten und Einödhöfen folgten alsbald Weiler und umfriedete Dörfer, die sich zwischen den sanften, fruchtbaren Hügeln verteilten. Als Eva auf einer Bergkuppe aus dem Schatten eines Buchenwäldchens trat, thronte auf dem flachen Hügel gegenüber ein herrschaftlicher Gutshof, umgeben von einer weißgekalkten Mauer mit wehrhaften Rundtürmen in den Winkeln. Zwischen den Strohdächern von Schuppen, Stallungen und niedrigen Hütten erhob sich in strahlendem Gelb das mehrstöckige, aus massivem Stein errichtete Herrenhaus. Mit seiner Fahne auf dem First und den zahlreichen Erkern und Türmchen wirkte es fast schon wie ein richtiges Burgschloss.
Beim Anblick des Landguts verspürte Eva plötzlich Hunger und Durst, zum ersten Mal seit jenem grauenhaften Geschehen auf dem Bauernhof. Und sie sehnte sich, nach zwei Nächten auf dem blanken Erdboden, nach einem Strohsack. Auch wennsie sich am liebsten dagegen gewehrt hätte: Ihre Lebensgeister kehrten zurück. Sie würde bei dem Herrenhof nach einem warmen Essen und nach Unterkunft fragen und im Gegenzug ihre Dienste anbieten. Obwohl sie keine Ahnung hatte, ob eine solch vornehme Herrschaft, wie sie hier zweifelsfrei wohnte, nicht ihren eigenen Schneidermeister hatte.
In eiligem Schritt stieg sie talwärts. Da sie keine Toreinfahrt entdecken konnte, umrundete sie in gehörigem Abstand die weitläufige Anlage. Zur anderen Seite hin, einer Talmulde, durch die sich ein Bach schlängelte, fand sie das mit einem Wehrgang besetzte Tor. Nicht weit davon, am Ufer des Baches, lagerte zu Evas großem Erstaunen eine Sippe Zigeuner: Splitternackte Kinder mit dunkler Haut und dichtem pechschwarzem Haar tobten unter den gespannten Wäscheleinen herum, Hunde dösten in der Abendsonne, und eine Handvoll Weiber in grellbunten Stoffen, behängt mit schwerem Silberschmuck, war gerade dabei, den Kessel fürs Abendessen zu füllen.
Eva kniff unwillig die Augen zusammen. Wollte sie zum Tor des Gutshofs, musste sie mitten hindurch zwischen den schmuddeligen Planwagen und Handkarren, zwischen diesen fremdartig anmutenden Frauen und Kindern. Männer waren keine zu sehen. Sie straffte die Schultern, hielt ihren Ledersack mit beiden Händen fest umklammert und setzte sich mit großen Schritten in Bewegung. Doch sie kam nicht mal bis zu dem gepflasterten Vorplatz.
«He, du! Weg, weg! Verschwind!»
Erschrocken starrte Eva auf die drei jungen Burschen, die sich jetzt vor ihr aufbauten. Sie waren dunkel wie die Nacht, einer von ihnen richtete drohend einen Holzbengel gegen sie.
«Was soll das?», fragte sie mit so männlicher Stimme wie möglich. «Lasst mich vorbei.»
«Nix da. Weg, verschwind!», wiederholte der mit dem Prügel, offensichtlich der Anführer, in seiner fremdartigen, kehligen Aussprache.
Da platzte Eva der Kragen. Dieses Tatarenpack! Die hatten ihr gar nichts zu sagen! Sie schleuderte dem Wortführer ihren Ledersack gegen das Kinn, sodass der mit einem Aufschrei hintenübersackte, und lief los in Richtung Tor – bis sie ein Schlag in beide Kniekehlen straucheln ließ. Als die Zigeuner sie packen wollten, brüllte und raste und fluchte sie, schlug um sich, kratzte und biss, was sie
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