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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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Pflichten entbunden hatte, kam Geneviève sich nutzlos vor. Sie bummelte noch ein wenig im Lazarett umher und schlenderte dann auf den Flur hinaus.
    Das Direktorzimmer war verschlossen; Montague Druitt lauerte vor der Tür. Geneviève wünschte ihm einen guten Abend.
    »Wo ist Dr. Seward?«, fragte sie.
    Druitt ließ sich nur widerwillig zum Sprechen bewegen. »Er ist ausgegangen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Und das zu äußerst ungelegener Zeit.«
    »Kann ich vielleicht behilflich sein? Wie Sie wissen, genieße ich das Vertrauen des Direktors.«
    Druitt presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Er glaubte wohl, dafür kämen nur warmblütige Männer infrage. Geneviève hatte nicht die leiseste Ahnung, was der Mann im Schilde führte. Er war eine der vielen ausgedörrten Seelen in Toynbee Hall; sie machte sich keine allzu großen Hoffnungen,
mit ihm an einem Strang ziehen, geschweige denn ihm helfen zu können.
    Sie ließ ihn allein auf dem Flur zurück und trat in das Foyer hinaus, wo eine unwirsche Krankenwärterin einen unablässigen Strom von Simulanten in den Nebel zurückscheuchte, sich dann und wann jedoch erbarmte und jemanden mit einer augenscheinlich tödlichen Verletzung einließ.
    Dr. Seward hatte sich in jüngster Zeit recht häufig außer Haus begeben. Vermutlich litt er großen Kummer. Wie sie alle. Trotz der Qualen, die ihre gebrochenen Knochen ihr bereiteten, ging Geneviève der Tod Pamela Beauregards nicht aus dem Sinn. Jedermann verlor mitunter liebe Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sie viele liebe Menschen verloren. Doch Charles hatte seinen Verlust noch nicht verschmerzt.
    »Miss Dieudonné?«
    Es war eine neugeborene Frau. Sie war von draußen hereingekommen. Sie war vornehm, wenn auch nicht allzu teuer gekleidet.
    »Erinnern Sie sich noch an mich? Kate Reed?«
    »Miss Reed, die Journalistin?«
    »Genau. Von der Central News Agency.« Sie streckte die Hand aus; Geneviève schüttelte sie kraftlos.
    »Was können wir für Sie tun, Miss Reed?«
    Die Neugeborene ließ Genevièves Hand los. »Ich hatte gehofft, mit Ihnen sprechen zu können. Es geht um neulich nachts. Dieses chinesische Wesen. Die Schmetterlinge.«
    Geneviève zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen irgendetwas sagen kann, was Sie nicht bereits wissen. Das war ein Ältester. Bei den Schmetterlingen handelt es sich offenbar um eine Grille seines Geblüts. Gewisse deutsche nosferatu bezeigen eine ähnliche Vorliebe für Ratten, und Sie haben bestimmt von den Karpatern und ihren geliebten Wölfen gehört.«

    »Warum richten sich diese Attacken ausgerechnet gegen Sie?«
    »Wenn ich das nur wüsste. Ich bin tadellos durchs Leben gewandelt, habe nichts als gute Taten vollbracht und genieße die Wertschätzung all jener, deren Pfade zu kreuzen ich das Vergnügen hatte. Es ist mir unvorstellbar, wie ein Mensch im Grunde seines Herzens feindselige Gefühle gegen mich hegen könnte.«
    Miss Reed schien die Ironie in ihrer Stimme entgangen zu sein. »Glauben Sie, der Überfall hat mit Ihrem Interesse an den Whitechapel-Morden zu tun?«
    Daran hatte Geneviève noch gar nicht gedacht. Sie überlegte einen Augenblick. »Das möchte ich bezweifeln. Auch wenn man Ihnen Gegenteiliges berichtet haben sollte, bin ich für die Ermittlungen wohl kaum von Bedeutung. Die Polizei hat mich zwar darüber befragt, welche Folgen die Morde für diese Gegend haben könnten, aber weiter geht meine Beteiligung nun wirklich nicht …«
    »Und hat nicht auch Charles … Mr. Beauregard sich bei Ihnen Rat geholt? Neulich nachts …«
    »Auch er hat lediglich mit mir gesprochen, weiter nichts. Wenn mich nicht alles täuscht, so schulde ich ihm Dank für die Ablenkung des Ältesten.«
    Miss Reed brannte darauf, ihr Neuigkeiten zu entlocken. Geneviève hatte den Eindruck, dass sich die Journalistin viel mehr für Charles als für den Ripper interessierte.
    »Und inwieweit ist Mr. Beauregard in die Ermittlungen verwickelt?«
    »Das müssen Sie ihn schon selbst fragen.«
    »Das würde ich gerne tun«, erwiderte Miss Reed. »Wenn ich nur wüsste, wo er steckt.«
    »Er steckt gleich hier, Kate«, sagte Charles.
    Er stand bereits seit einer Weile schweigend in der Ecke. Geneviève hatte nicht bemerkt, dass er das Foyer betreten hatte. Blinzelnd
schob sich Miss Reed eine Rauchglasbrille auf die Nase. Ihre Haut zeigte die Blässe einer Neugeborenen, und doch vermeinte Geneviève auf ihren Wangen einen Hauch von Schamesröte zu

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