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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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kleinen Augenblick nur, hatte Godalming das zornerfüllte Antlitz des Fürsten gesehen. Seit jenem Tag begegnete er den Karpatern mit unangemessener Ehrfurcht, erblickte er in jedem Einzelnen von ihnen Größe und Grausamkeit
ihres Führers. Es war einfach lächerlich. Sosehr ein Rohling wie Iorga oder ein Haudegen wie Hentzau den Grafen Dracula auch nachzuahmen suchte, sie waren doch nie mehr als ein schwacher Abklatsch des großen Originals und im Grunde ebenso läppisch wie der schlotterigste Murgatroyd von ganz Soho.
    Er verabschiedete sich und überließ es dem General und dem Commissioner, das Durcheinander zu beseitigen. Die beiden hegten offenbar die Absicht, dümmlich umherzustehen und Mackenzie widersprüchliche Befehle zu erteilen. Als er am Buckingham-Palast vorüberkam, grüßte er die Karpater vor den Toren mit zum Hut erhobener Hand. Die gehisste Flagge zeigte an, dass Ihre Majestät und Seine Königliche Hoheit in ihrer Residenz weilten. Godalming fragte sich, ob der Prinzgemahl jemals an Lucy denken mochte.
    Wo der Park an die Victoria Station grenzte, standen ein paar Pferdewagen voller armseliger Kreuzfahrer, die sich in Polizeigewahrsam befanden. Was Tumulte anbetraf, so war das Treiben des heutigen Abends allenfalls drittrangig zu nennen, befand Godalming.
    Er pfiff, obgleich der rote Durst ihm in der Kehle brannte. Es tat wohl, jung, reich und ein Vampir zu sein. Ganz London lag ihm zu Füßen, mehr noch als Ruthven oder Dracula. Zwar mochten sie Älteste sein, doch gab ihnen dies im Grunde das Nachsehen, wie Godalming mit einem Mal erkannte. Sosehr sie sich auch bemühten, sie würden immer hinter ihrer Zeit zurückbleiben. Sie waren historische Figuren, er hingegen war ein Mensch von heute.
    Zu Anfang seiner Verwandlung hatte er sich unentwegt gefürchtet. Jede Nacht meinte er, der Prinzgemahl wolle ihn holen kommen und bestrafen wie Jonathan Harker und Van Helsing. Nun aber durfte er getrost darauf vertrauen, dass man ihm vergeben hatte. Er mochte Lucy Westenra vernichtet haben, doch
hatte Dracula es auf weit wichtigere warmblütige Weiber abgesehen. Womöglich war er sogar dankbar, dass Godalming ihm den Spross seiner ersten Tändelei in England vom Halse geschafft hatte. Es wäre ihm vermutlich nicht sehr lieb gewesen, eine untote Lucy zur Brautjungfer zu haben, welche die strahlende Viktoria mit rotglühenden Blicken durchbohrte, während diese von ihrem ergebenen Premierminister durch den Mittelgang der Westminster-Abtei zum Altar geleitet wurde. In der königlichen Hochzeit hatten die Jubiläumsfeierlichkeiten des vergangenen Jahres ihren Höhepunkt gefunden. Die Verbindung der Witwe von Windsor mit dem Fürsten der Walachei einte eine von grundlegenden Veränderungen erschütterte Nation, die ebenso gut in tausend Stücke hätte zerspringen können.
    Um zwei Uhr in der Früh erwartete man ihn in der Downing Street. Geschäfte wurden inzwischen nur noch nachts getätigt. Danach, vor Tagesanbruch, war er zu einem Empfang in das Café Royal geladen, wo Lady Adeline Ducayne vornehmen Besuch willkommen hieß, die Gräfin Elisabeth Bathory. Da es sich bei den Bathorys um entfernte Verwandte der Draculas handelte, hofierte Lady Adeline die Gräfin, wo sie nur konnte. Zwar nannte Ruthven die Gräfin Elisabeth eine »aufreizend degoutante Gossenkatze« und Lady Adeline ein »dürres Gerippe, das vor kaum einem Menschenalter dem Sumpf entstiegen ist«, und doch hatte er im Fall, dass wichtigere Dinge erörtert würden, auf Godalmings Anwesenheit bei der Gesellschaft insistiert.
    Die nächsten sechs Stunden war er frei. Sein roter Durst wuchs von Minute zu Minute. Es war angenehm, seinen Bedürfnissen die Befriedigung zu verweigern, denn dies steigerte die Lust auf neue Nahrung. Nach einem kurzen Zwischenhalt in seinem Haus am Cadogan Square, um Abendgarderobe anzulegen, wollte sich Godalming auf die Pirsch begeben. Mit den Freuden der Jagd war er bestens vertraut. Er hatte bereits das eine oder andere Opfer
ausersehen und war fest entschlossen, eine der fraglichen Damen heute Nacht zur Strecke zu bringen.
    Seine Fangzähne bohrten sich in seine Unterlippe. Die Aussicht auf einen Beutezug setzte wohlvertraute leibliche Veränderungen in Gang. Sein Gaumen war feiner, sein Geschmack weiter gestreut. Seine vergrößerten Zähne taten seiner Pfeifkunst Abbruch. »Barbara Allen« wurde zu einer wunderlichen neuen Weise, die niemand mehr erkennen würde.
    Am Cadogan Square näherte sich ihm eine Frau.

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