Die Vampire
Notwendigkeiten aufgekommen. Meine Familie hat immer reichlich Geld besessen. Keinen Titel zwar, doch immer Geld.
Ich habe die Kelly gebeten, mir von Lucy zu erzählen. Die Geschichte - und ich schäme mich dieser Erkenntnis keineswegs - erregt mich. Wenn ich mir aus der Kelly auch nichts mache, so muss ich doch Lucy zuliebe für sie sorgen. Die Stimme der Kelly ändert sich, der walisisch-irländische Singsang und die merkwürdig gouvernantenhafte Ausdrucksweise verschwinden, und Lucy, die weitaus weniger als ihr verhurter Spross darauf bedacht war, was und wie sie etwas sagte, scheint zu sprechen. Die Lucy, an die ich mich erinnere, ist sauber, adrett und eigentlich ein kokettes Wesen. Irgendwo zwischen diesem verwirrenden, aber betörenden Mädchen und dem kreischenden Blutsauger, dem ich den Kopf absägte, stand die Neugeborene, welche die Kelly verwandelt hat. Draculas Spross. Jedem weiteren Bericht von ihrer nächtlichen Begegnung auf der Heath fügt die Kelly neue Einzelheiten hinzu. Entweder wird ihr die Vergangenheit von Mal zu Mal lebendiger, oder sie erfindet sie mir zuliebe. Ich weiß nicht, welche der beiden Möglichkeiten mir aufreizender erscheinen möchte. Manchmal sind Lucys Avancen der Kelly gegenüber nichts weiter als zärtliche, verführerische, geheimnisvolle, leidenschaftliche Liebkosungen vor dem dunklen Kuss. Dann wieder wird sie von Lucy brutal geschändet, zerfetzen nadelspitze Zähne Fleisch und Muskeln. Mit dem Spiel unserer Leiber illustrieren wir Kellys Erzählungen.
Ich habe die Gesichter der toten Frauen vergessen. Ich kenne nur noch das Gesicht der Kelly, und dies wird Lucy von Nacht zu Nacht ähnlicher. Ich habe der Kelly Kleider gekauft, wie Lucy sie besaß. Das Nachtgewand, welches sie anlegt, ehe wir uns paaren,
ähnelt sehr dem Sterbehemd, in dem Lucy begraben wurde. Unterdessen trägt die Kelly das Haar, wie Lucy es zu tun pflegte. Bald, so wage ich zu hoffen, wird die Kelly zu Lucy geworden sein.
40
Die Rückkehr des Hansom
S eit dem ›doppelten Erfolg‹ ist beinahe ein Monat vergangen, Charles«, überlegte Geneviève. »Vielleicht ist es ja vorbei?«
Beauregard schüttelte den Kopf. Ihre Bemerkung hatte ihn aus seinen Grübeleien gerissen. Er musste immerzu an Penelope denken.
»Nein«, erwiderte er. »Nur das Gute findet von selbst ein Ende; dem Bösen muss man ein Ende setzen.«
»Da haben Sie natürlich Recht.«
Die Dunkelheit war längst hereingebrochen, und sie befanden sich in den Ten Bells. Allmählich war ihm Whitechapel ebenso vertraut wie all die anderen Winkel dieser Erde, in die der Diogenes-Club ihn entsandt hatte. Seine Tage brachte er unruhig schlafend in Chelsea zu, und des Nachts begab er sich mit Geneviève im East End auf die Jagd nach Jack the Ripper. Ohne Erfolg.
Langsam beruhigten sich die Gemüter. Die Bürgerwehren, die noch zwei Wochen zuvor unheilstiftend und arglose Passanten behelligend durch die Straßen gezogen waren, hatten Schärpe und Knüppel zwar nicht abgelegt, brachten unterdessen jedoch mehr Zeit in Wirtshäusern zu als im Nebel. Nachdem sie einen Monat lang doppelt und dreifach hatten Dienst tun müssen, kehrten die Gendarmen allmählich zu ihren gewohnten Pflichten zurück. Schließlich hatten die Taten des Rippers nichts und niemanden
daran gehindert, anderswo in der Stadt Verbrechen zu begehen. In Sehweite des Buckingham-Palastes war es gar zu einer regelrechten Revolte gekommen.
Letzte Nacht hatte jemand einen Krug Schweineblut über das Porträt der königlichen Familie neben dem Tresen ausgegossen. Woodbridge, der Aufwärter, hatte den vaterlandslosen Trunkenbold hinausgeworfen, die Flecke an der Wand und dem Gemälde jedoch blieben. Das Gesicht des Prinzgemahls war eine verzerrte, rottriefende Fratze.
Die Kreuzfahrer gaben keine Ruhe. Da Jago im Gefängnis saß und die meisten seiner Anhänger sich entweder in Gewahrsam befanden oder aber im Untergrund verschwunden waren, hatte Scotland Yard geglaubt, die Bewegung werde verkümmern und dahingehen, doch erwies sie sich als ebenso widerspenstig wie seinerzeit die wahren christlichen Märtyrer. An den Mauern der ganzen Stadt prangten schmale rote Kreuze, die nicht nur Christus beschworen, sondern auch England. Beauregard waren Gerüchte zu Ohren gekommen, denen zufolge die Raben den Tower am Abend von Graf Orloks Amtsantritt verlassen hatten und das Königreich als besiegt gelten durfte. Wenn das Land jemals eine Stunde höchster Not durchleiden musste, so mochte diese
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