Die Vampire
ihr Blut trinken zu lassen, war ihr zunächst wie eine missfällige Notwendigkeit erschienen. Bei seinem Biss hatte sie eine merkwürdige Erregung verspürt, die von einem Schmerz nur schwer zu unterscheiden war. Ihn zur Ader zu lassen, war eine anekelnde, wenngleich unumgängliche Obliegenheit gewesen; dieses Verlangen nun war anders. Die Verwandlung hatte etwas wachgerufen in Penelope. Als sie ihre Zunge in die offene Wunde legte, war ihr altes Ich vergessen, wirklich tot. Als das Blut in ihren Mund floss, erwachte die Neugeborene, zu der sie geworden war.
Sie hatte beschlossen, zum Vampir zu werden, weil sie es für angemessen hielt. Sie war auf Charles böse gewesen wegen seiner Tändelei mit jener schauderhaften Ältesten und weil er es versäumt hatte, bei ihr zu erscheinen und sie ordentlich um Verzeihung zu bitten. Schändlich hatte er die warmblütige Penelope behandelt; vielleicht würde er seine Haltung ändern, wenn sie sich verwandelte. All dies war selbstverständlich völlig widersinnig.
Sie schluckte begierig, spürte, wie das Blut durch ihren Körper strömte. Es rann ihr nicht allein die Kehle hinab, sondern durchflutete ihr Zahnfleisch, ihr Gesicht. Sie spürte, wie es ihre Wangen aufschwellen ließ, in den Adern unter den Ohren pochte, ihre Augen ausfüllte.
»Genug jetzt, Missy. Sie murksen mir die Kleine ja gleich ab. Vorsicht.«
Die Frau wollte ihr das Kind entreißen, doch Penelope schüttelte sie ab. Ihr Durst war noch nicht gestillt. Das Wimmern des Kindes klang ihr in den Ohren; es lag etwas Forderndes in seinem schwachen Winseln. Das Mädchen wollte ausgesaugt werden, ebenso wie Penelope ihr Blut benötigte …
… endlich war es vorbei. Das Herz des Kindes schlug noch. Penelope ließ es auf das Trottoir hinunter. Das andere Mädchen - seine Schwester? - wickelte es rasch wieder ein.
»Einen Shilling«, sagte die Frau. »So viel kostet Sie einen Shilling.«
Penelope fauchte die kupplerische Schlampe an, spuckte durch ihre Fangzähne. Es würde ihr ein Leichtes sein, sie vom Bauch bis zur Kehle aufzuschlitzen. Ihre Krallen waren lang genug.
»Einen Shilling.«
Die Frau blieb standhaft. Penelope erkannte eine Verwandte in ihr. Sie beide lebten mit einem Verlangen, das alle Bedenken zunichte werden ließ.
In ihrer Westentasche fand sie eine Uhr an einer Kette. Sie löste sie von ihrem Wams und warf sie nach der Kupplerin. Mit gekrümmten Fingern fischte die Frau ihren Lohn aus der Luft. Ihr Mund verzerrte sich zu einem ungläubigen Grinsen.
»Dank Ihnen vieltausendmal, Missy. Danke. Meine Mädchen stehen Ihnen jederzeit zu Diensten, Missy. Jederzeit.«
Penelope ließ die Frau am Cadogan Square zurück und ging in den Nebel davon, erfüllt von neu gefundener Lebenskraft. Innerlich war sie so stark wie nie zuvor …
… trotz des Nebels fand sie sich mühelos zurecht. Das Haus der Churchwards lag nicht allzu weit entfernt, in der Caversham Street. Wie sie so dahinging, schien es ihr, als wisse in der ganzen Stadt nur sie allein, wohin ihr Weg sie führte. Sie hätte selbst mit geschlossenen Augen heimgefunden.
Das Blut des Mädchens machte sie benommen. Obschon sie selten mehr als ein Glas Wein zum Diner getrunken hatte, wusste sie, dass ihr jetziger Zustand einem Rausch recht nahe kam. Einmal hatten sie und Kate gemeinsam mit einem anderen Mädchen vier erstklassige Flaschen aus dem Keller ihres verstorbenen Vaters geleert. Nur Kate war nachher nicht von Übelkeit betroffen worden, ein Umstand, den mit stolzer Stimme zu betonen sie nicht müde wurde. Nun war ihr ebenso wie damals, wenngleich es diesmal nicht im Bauch rumorte.
Hier und da spürten es die Leute, wenn sie sich ihnen näherte, und beeilten sich, ihr aus dem Weg zu gehen. Niemand verwandte auch nur einen Blick oder eine unlautere Bemerkung auf ihren sonderbaren Aufzug. Die Männer hüllten sich in Schweigen, was die Bequemlichkeit ihrer Kleidung anbetraf. Sie wähnte sich nachgerade seeräuberisch, wie Anne Bonney. Gewiss hatte nicht einmal Pam je ein derart erheiterndes Gefühl verspürt. Endlich war es Penelope gelungen, ihre Cousine an Glanz zu übertreffen.
Der Nebel wurde lichter, und der Mantel lastete schwer auf ihren Schultern. Schwindelnd blieb sie stehen. Ob das Mädchen ihr eine Krankheit übertragen hatte? Wie ein volltrunkener Stutzer klammerte sie sich an einen Laternenpfahl. Der Nebel hing in dünnen Fetzen. Eine Brise wehte vom Fluss herauf. Der Wind brachte den Geschmack der Themse mit
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