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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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Verwandlung zur Seite zu stehen. Obgleich die Etikette dies von alters her vorschrieb, hatte Godalming sich moralisch dazu offenbar keineswegs verpflichtet gefühlt.
    Sie stießen die Flügel der ornamentverglasten Tür auf und traten hinaus. Beauregard fröstelte in der Kälte, doch Geneviève wehte durch den eisigen Nebel dahin, als handele es sich um die heitere Frühlingssonne. Er musste sich unentwegt ins Gedächtnis rufen, dass dieses aufgeweckte Mädchen kein Mensch war. Sie befanden sich in der Commercial Street, unweit von Toynbee Hall.
    »Ich würde gern auf einen Sprung hineinschauen«, sagte Geneviève. »Seit Jack Seward ein neues Liebchen hat, vernachlässigt er seine Pflichten.«
    »Liederlicher Bursche«, bemerkte er.
    »Ganz und gar nicht. Er ist bloß rastlos, ja besessen. Ich bin froh, dass er ein wenig Ablenkung gefunden hat. Er befindet sich seit Jahren am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Es hat ihm arg zugesetzt, wie Vlad Tepes seinerzeit in England eintraf. Er spricht zwar nicht gern darüber - schon gar nicht mit mir -, aber man hat mir die eine oder andere Geschichte über ihn erzählt.«
    Auch Beauregard waren verschiedene Gerüchte zu Ohren gekommen.
Vonseiten Lord Godalmings, so seltsam es auch scheinen mochte, wie auch seitens des Diogenes-Clubs. Sewards Name hatte in Verbindung mit dem Abraham Van Helsings Erwähnung gefunden.
    Ein Stück die Straße hinab stand ein vierräderiger Wagen; das Pferd stieß schnaubend Dampf durch die Nüstern. Beauregard erkannte den Kutscher sogleich wieder. Zwischen Schal und Mützenschirm leuchteten dunkle Mandelaugen.
    »Was ist?«, fragte Geneviève, als sie seine plötzliche Anspannung bemerkte. Sie befürchtete immer noch, dass der chinesische Älteste sie unvermittelt anspringen und ihr die Luftröhre herausreißen könnte.
    »Flüchtige Bekannte«, erwiderte Beauregard.
    Der sanfte Schwung, mit dem der Schlag geöffnet wurde, kräuselte den Nebel. Beauregard wusste, dass sie umzingelt waren: der Landstreicher, der in einem Durchgang auf der anderen Straßenseite kauerte; der Faulenzer, der wegen der Kälte die Arme um sich schlang; ein Dritter, der kaum sichtbar im Schatten des Tabakladens lauerte; ja vielleicht sogar die hochmütige Vampirfrau, die in viel zu guten Kleidern en route zu einem Stelldichein an ihnen vorüberparadierte. Mit dem Daumen öffnete er den Haken am Heft seines Stockdegens, obschon er bezweifelte, dass er es mit allen zugleich aufnehmen konnte. Geneviève brauchte seine Hilfe nicht, wenngleich es ihm unrecht erschien, sie noch tiefer in die Sache hineinzuziehen.
    Man würde vermutlich Rechenschaft von ihm verlangen wegen des schleppenden Fortgangs seiner Ermittlungen. Vom Standpunkt des Limehouse-Ringes aus besehen, verschlimmerte sich die Lage mit jeder neuerlichen Polizeirazzia und »Notstandsverordnung«.
    Jemand beugte sich aus dem Fuhrwerk und winkte sie zu sich heran. Zögernden Schrittes trat Beauregard näher.

41
    Lucy macht einen Besuch
    S ie machte winzige Schritte, damit ihre Röcke nicht über den Boden schleiften. Wie jede Dame war sie von peinlicher Genauigkeit, was die Wahrung der Etikette anbetraf. Ihre neuen Kleider, die sie mit Johns Geld erworben hatte, waren noch ein wenig steif und kratzig. Kaum ein Passant, der ihr auf ihrem abendlichen Spaziergang begegnete, hätte wohl jene Mary Jane Kelly wiederzuerkennen vermocht, die ihm so vertraut war. Sie fühlte sich beinahe wie damals in Paris, frisch wie eine junge Rose, befreit von ihrer traurigen Geschichte.
    In der Commercial Street half ein feiner Herr einer hübschen Vampirfrau in eine Kutsche. Mary Jane blieb stehen und bewunderte das Pärchen. Es bereitete dem Herrn nicht die geringste Mühe, der Frau nach Hofmanier beizustehen, eine jede seiner Gesten war präzise und perfekt; selbst der männliche Aufzug, den dieser Nächte viele Neugeborene favorisierten, konnte die Schönheit des Mädchens nicht verhehlen. Ihre Haut schimmerte strahlend weiß, ihr Haar war honigfarbene Seide.
    Der Kutscher gab seinem Gaul die Peitsche, und der Wagen klapperte davon. Nicht lange, dann würde auch sie nur noch mit der Kutsche reisen. Die Fuhrleute würden den Hut vor ihr ziehen. Feine Herren sprängen herbei, um ihr den Schlag zu öffnen.
    Sie stand vor der Tür von Toynbee Hall. Als sie sich zuletzt hierherbegeben hatte, war ihr Gesicht von einem unglücklichen Stich Sonnenlichts kohlrabenschwarz verbrannt gewesen. Dr. Seward - seinerzeit noch nicht ihr John -

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