Die Vampire
zusammenriefen.
Er verweilte einen Augenblick im Nebel, und die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Von allen Anwesenden wusste nur er - und der Attentäter -, was tatsächlich vorgefallen war. Seine Fähigkeiten erreichten allmählich ihr volles Ausmaß und gewährten ihm die Einsichten und Empfindungen eines Vampirs, den man noch nicht als Ältesten bezeichnen mochte, der jedoch gewiss kein Neugeborener mehr war. Er vermochte das Chaos unter der ruhigen Oberfläche zu sehen. Lord Ruthven hatte ihm bedeutet, nach einem Vorteil Ausschau zu halten und diesen erbarmungslos zu nutzen. Wenn er es geschickt anstellte, konnte er aus seinem Wissen einen ungeheuren Vorteil ziehen.
47
Mr. Beauregard und die Liebe
E r stand mit hinter dem Rücken verschränkten Händen am offenen Kamin und genoss die wohltuende Wärme. Nach dem kurzen Spaziergang von der Caversham Street heim nach Cheyne Walk war er durchgefroren bis auf die Knochen. Bairstow hatte frühzeitig ein Feuer angefacht, und im Salon herrschte eine anheimelnde Atmosphäre.
Geneviève wanderte im Zimmer umher wie eine Katze, die sich mit ihrem neuen Heim vertraut zu machen sucht, wollte einen jeden Gegenstand, auf den sie bei ihrem Rundgang stieß, prüfen, betasten, schmecken beinahe, ehe sie ihn wieder an seinen Platz legte und zurechtrückte.
»Ist das Pamela?«, fragte sie, indem sie die letzte Fotografie in die Höhe hielt. »Sie war bildschön.«
Beauregard stimmte ihr zu.
»Die meisten Frauen würden sich wohl nicht gern fotografieren lassen, wenn sie guter Hoffnung sind. Sie fänden das womöglich unanständig«, sagte sie.
»Pamela war anders als die meisten Frauen.«
»Zweifelsohne, dem Einfluss nach zu urteilen, den sie auf ihre Hinterbliebenen ausübt.«
Beauregard hatte den Zwischenfall keineswegs vergessen.
»Sie wollte allerdings nicht, dass Sie Ihr Leben unnütz vertun«, sagte sie und stellte die Fotografie zurück. »Und sie hätte gewiss auch nicht gewollt, dass ihre Cousine ihre Gestalt annimmt.«
Beauregard wusste keine Antwort. Geneviève ließ seine Verlobung in einem ungünstigen Licht erscheinen. Penelope und er hatten sowohl sich selbst als auch einander betrogen. Dennoch verspürte er gegen Penelope, Mrs. Churchward oder Florence Stoker nicht den geringsten Groll. Die Schuld lag ganz allein bei ihm.
»Hin ist hin«, fuhr Geneviève fort. »Niemand weiß das besser als ich. Ich habe Jahrhunderte der Vergessenheit übergeben.«
Sie krümmte rasch den Rücken und parodierte eine tattrige alte Schachtel. Dann richtete sie sich wieder auf und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Wie geht es weiter mit Penelope?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Achseln. »Das lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Ich glaube, sie wird es überleben, und ich vermute, sie wird wieder ganz sie selbst. Vielleicht sogar zum ersten Mal sie selbst.«
»Sie mögen sie nicht besonders, nicht wahr?«
Sie unterbrach ihre Wanderung und legte nachdenklich den Kopf schief. »Ich bin wohl eifersüchtig.« Sie ließ die Zunge über ihre hell schimmernden Zähne gleiten. Plötzlich bemerkte sie, dass sie ihm näher gekommen war, als die Etikette es erlaubte. »Andererseits ist sie wohl keine allzu liebenswürdige Person. In
jener Nacht in Whitechapel, nach meinem Kampf gegen den Ältesten, schien sie mir nicht eben freundlich. Diese schmalen Lippen, dieser stechende Blick.«
»Ist Ihnen eigentlich bewusst, welche Überwindung es sie gekostet haben muss, sich in solch ein Viertel zu begeben? Um mich ausfindig zu machen? Es ging gegen alles, was man sie gelehrt hat, alles, woran sie jemals glaubte.«
Er vermochte es noch immer kaum zu fassen, dass die alte Penelope sich tatsächlich auf eigene Faust aus dem Haus gewagt hatte und noch dazu an einen Ort gefahren war, den sie gleichsam auf einer Stufe mit den Abgründen der Hölle wähnte.
»Sie hat mit Ihnen abgeschlossen«, sagte sie unumwunden.
»Ich weiß.«
»Nun, da sie neugeboren ist, wird sie Ihnen schwerlich eine brave kleine Ehefrau sein können. Sie wird sich allein in der Nacht zurechtfinden müssen. Vielleicht hat sie sogar das Zeug zu einem vortrefflichen Vampir, was auch immer das bedeuten mag.« Sie legte ihre Hand an sein Revers, und ihre spitzen Nägel bohrten sich in den Stoff. Die Hitze des Kaminfeuers wurde ihm beinahe unangenehm. »Komm, küss mich, Charles.«
Er zögerte.
Sie lächelte, und ihre ebenmäßigen Zähne schienen fast normal. »Keine Sorge«, sagte sie.
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