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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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verwandelt worden war. Von jener Nacht in Hampstead Heath, als seine teure Lucy ihr den dunklen Kuss gegeben hatte. Nun aber erzählte sie ihm die Geschichte, als ob sie Lucy sei und Mary Jane ein anderer Mensch, eine nichtswürdige Hure …
    »Mir war so kalt, John, mich dürstete so sehr, ich fühlte mich so neu …«
    Es fiel ihr nicht allzu schwer, ihm Lucys Empfindungen zu schildern. Auch sie hatte jene blindwütige Angst verspürt, als sie aus dem Totenschlaf erwachte. Jenen ungeheuren, grenzenlosen Durst. Nur war Lucy, pietätvoll aufgebahrt und betrauert, in einer Gruft erwacht. Mary Jane hingegen hatte auf einem Karren gelegen, um wenige Minuten später zusammen mit anderen Leichen, für deren Bestattung niemand Sorge tragen wollte, in eine Kalkgrube geworfen zu werden.
    »Sie war nichts als eine irländische Hure. Eine unbedeutende Person, John. Aber ihr Leib war warm und weich, voller Leben. In ihrem zarten Hals hämmerte das Blut.«
    Mit hängendem Kopf hörte er ihr zu. Sie hielt ihn für wahnsinnig. Doch er war ein Gentleman. Und er war gut zu ihr, gut für sie. Immerhin hatte er sie vor jenem sonderbaren Gecken beschützt. Der Wahnsinnige mit seinem Gerede über Jack the Ripper hatte sie bedroht, und John Seward war ihm in den Weg getreten. Nie hätte sie damit gerechnet, dass er sie so kühn verteidigen würde.
    »Das Blut der Kinder hatte nicht genügt, John. Mein Durst war fürchterlich, zehrte mich auf.«
    Ihre neuen Begierden hatten Mary Jane verwirrt. Es vergingen Wochen, bis sie sich damit zurechtgefunden hatte. Aber all das erschien ihr nur mehr wie ein Traum. Nach und nach vergaß sie Mary Janes Erinnerungen. Sie war Lucy.
    Mit geschickter Hand strich John das Hemd über ihrer Brust zurecht. Er war ganz der umsichtige Liebhaber. Zuvor, als er dem Gecken mit dem Messer zu Leibe gerückt war, hatte sie eine neue Seite an ihm entdeckt. Als er zugestochen hatte, hatte seine Miene sich verändert. Als er ihr erklärt hatte, nun sei sie gerächt, hatte sie gewusst, dass er von Lucy sprach. Der Geck hatte Lucy vernichtet. Doch mit seinem Tod war jener Teil der Geschichte aus Johns Gedächtnis getilgt. Vielleicht würde sie mehr darüber erfahren, je weiter Mary Jane verschwand und sich in Lucy verwandelte. Während Lucys Erinnerungen von ihr Besitz ergriffen, versank Mary Jane langsam in einem dunklen Ozean.
    Da Mary Jane ohnedies völlig unbedeutend war, durfte sie sich glücklich schätzen, auf diese Weise zu ertrinken. In der kalten, dunklen Tiefe wäre es ihr ein Leichtes, als Mary Jane einzuschlafen und als Lucy wieder zu erwachen.
    Doch im Grunde ihres Herzens …
    Obgleich es ihr schwerfiel, mit der Entwicklung Schritt zu halten, versuchte sie ihr Bestes. John war ihre einzige Hoffnung, diesem ärmlichen Zimmer, diesem Hexenkessel zu entfliehen. Irgendwann würde sie ihn überreden, sie in einem besseren Viertel der Stadt unterzubringen. Sie würde vornehme Kleider und Bedienstete haben. Und beredte Kinder mit reinem, süßem Blut.
    Für sie gab es nicht den geringsten Zweifel, dass der Geck den Tod verdient hatte. Er war wahnsinnig gewesen. Niemand hatte sich in Miller’s Court versteckt gehalten und auf ihn gewartet. Danny Dravot war nicht der Ripper. Er war nichts als ein gewöhnlicher
Soldat, der unentwegt Lügengeschichten erzählte über all die Heiden, die er erschlagen hatte, und all die Negerhuren, mit denen er ins Bett gegangen war.
    Als Lucy dachte sie daran zurück, wie Mary Jane angsterfüllt ihren Hals umklammert hielt. Lucy entschlüpfte ihrer Gruft.
    »Ich brauchte sie, John«, fuhr sie fort. »Ich brauchte ihr Blut.«
    Gelehrtenhaft und reserviert saß er an ihrem Bett. Nachher wollte sie ihm Befriedigung verschaffen. Und sie wollte von ihm trinken. Mit jedem Tropfen, den sie von ihm trank, löste Mary Jane sich weiter auf und wurde zu Lucy. Es musste an seinem Blut liegen.
    »Das Verlangen war ein Schmerz, ein Schmerz, wie ich ihn nie zuvor verspürt hatte. Er nagte an meinem Leib, erfüllte mein armes Hirn mit rotem Fieber …«
    Seit ihrer Wiedergeburt fand sie für den Spiegel in ihrem Zimmer keinerlei Verwendung mehr. Und da sich niemand je die Mühe machte, ihr Porträt zu zeichnen, geschah es leicht, dass sie ihr Gesicht vergaß. John hatte ihr Bilder von Lucy gezeigt, auf denen sie aussah wie ein kleines Mädchen in den Kleidern seiner Mutter. Wenn sie sich ihr Gesicht vor Augen rief, sah sie nur noch Lucy.
    »Ich bedeutete ihr, den Weg zu verlassen«, sagte sie,

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