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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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spürte er sie in sich, in seinem Geist. Ihm zitterten die Knie. Vermutlich der Blutverlust.
    »Keine Sorge, Charles«, sagte sie lächelnd. »Ich wollte dich nicht behexen. In ein bis zwei Wochen werden die Symptome nachlassen. Glaub mir, ich habe meine Erfahrungen mit dem Zustand, in dem du dich befindest.«
    »Nunc scio quid sit amor!«, zitierte er Vergil. Jetzt begreife ich, was Liebe ist. Er vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. Allerlei Einsichten flatterten wie Schmetterlinge in seinem Kopf umher, waren jedoch beim besten Willen nicht zu packen.
    »Charles, mir ist da etwas eingefallen«, sagte sie. »Eine Bemerkung von Colonel Moran über den Ripper.«
    Nur mit allergrößter Willensanstrengung gelang es ihm, sich auf diese dringliche Angelegenheit zu konzentrieren.
    »Warum ausgerechnet in Whitechapel?«, fragte sie. »Warum nicht in Soho oder im Hyde Park oder wo auch immer? Weder Vampirismus noch Prostitution sind auf diesen Bezirk beschränkt. Der Ripper geht hier auf die Jagd, weil es für ihn am bequemsten ist, weil er hier lebt. Irgendwo ganz in der Nähe …«
    Er begriff sofort. Seine Verwirrung war wie weggeblasen.
    »Ich habe unsere Unterlagen durchgesehen«, sagte sie, indem sie auf einen der Aktenstapel klopfte, die sich auf dem Schreibtisch
türmten. »Alle Opfer sind irgendwann einmal hier eingeliefert worden.«
    Er hatte Morans Überlegung nicht vergessen.
    »Alle Spuren führen nach Toynbee Hall«, erwiderte er. »Druitt hat hier gearbeitet, du tust es noch, die Stride wurde hierhergebracht, alle Morde ereigneten sich im unmittelbaren Umkreis dieses Hauses. Du hast gesagt, alle toten Frauen seien hier gewesen …«
    »Ja, im Lauf des letzten Jahres. Vielleicht hatte Moran wirklich Recht. Vielleicht war Druitt wirklich der Täter. Seit seinem Tod hat es keine Morde mehr gegeben.«
    Beauregard schüttelte den Kopf. »Es ist noch nicht vorbei.«
    »Wenn Jack doch nur hier wäre.«
    Er ballte eine Hand zur Faust. »Dann hätten wir den Mörder.«
    »Nein, ich meine Jack Seward. Er hat die Frauen allesamt behandelt. Er könnte wissen, ob sie irgendetwas gemein hatten.«
    Als er der vollen Bedeutung ihrer Worte gewahr wurde, blitzte ein Funke in seinen Augen auf. Mit einem Mal wusste er die Lösung …
    »Sie hatten Seward gemein.«
    »Aber …«
    »Jack Seward.«
    Obschon sie den Kopf schüttelte, sah er, dass sie sogleich begriffen hatte, dass sie derselben Überzeugung war wie er. Sie dachten angestrengt nach. Er kannte ihre Gedanken, sie kannte seine. Beiden fiel ein, wie Elizabeth Stride ihre Klauen in Sewards Knöchel geschlagen hatte. Sie hatte in der Tat versucht, ihnen etwas mitzuteilen. Sie hatte die Krallen ausgestreckt, um ihren Mörder zu identifizieren.
    »Ein Arzt«, sagte Geneviève. »Einem Arzt vertrauten sie. Nur so konnte er sich mühelos an sie heranmachen, selbst als die Panik überhandzunehmen drohte …«

    Indem sie das Vergangene Revue passieren ließ, kamen ihr tausend winzige Einzelheiten in den Sinn. Unzählige kleine Rätsel waren mit einem Mal gelöst. Zahllose Dinge, die Seward gesagt oder getan hatte. Seine Ansichten, seine Abwesenheit. Für alles gab es eine Erklärung.
    »Dabei hat man es mir klipp und klar gesagt: ›Mit Dr. Seward stimmt etwas nicht‹«, fuhr sie fort. »Schimpf und Schande über mich, dass ich nicht darauf gehört habe, Schimpf und Schande, Schande, Schande …« Sie schlug sich die Fäuste vor die Stirn. »Da kann ich nun in Herz und Seele anderer Menschen blicken und ignoriere selbst Arthur Morrison. Ich bin die schlimmste Närrin, die je auf Gottes Erdboden wandelte.«
    »Gibt es hier Tagebücher?«, fragte Beauregard, um ihrem Anfall von Selbstbezichtigung ein Ende zu setzen. »Persönliche Aufzeichnungen, Notizen, irgendetwas dieser Art? Wahnsinnige wie Seward verspüren häufig das zwanghafte Bedürfnis, Andenken, Erinnerungsstücke aufzubewahren.«
    »Seine Akten habe ich durchgesehen. Sie enthalten nur das Übliche.«
    »Verschlossene Schubladen?«
    »Nein. Nur das Phonographen-Schränkchen. Die Wachswalzen sind sehr staubempfindlich.«
    Beauregard packte kräftig zu und riss mit einem Ruck den Deckel von der Apparatur. Er zerrte an der verriegelten Schublade in der Konsole. Das fragile Schloss brach. Die Walzen lagen in wohlgeordnet aufgereihten Metallhülsen, deren Etiketten säuberlich mit Tinte beschriftet waren.
    »Chapman«, las er laut vor, »Nichols, Schön, Stride/Eddowes, Kelly, Kelly, Kelly, Lucy …«
    Geneviève

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