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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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indem sie den Kopf von den Kissen erhob und ihr Gesicht nah an das seine brachte. »Ich sang halblaut vor mich hin und winkte ihr zu. Ich wünschte sie zu mir, und sie kam …«
    Sie streichelte seine Wange und legte ihren Kopf an seine Brust. Sowie sie sich auf die Melodie besonnen hatte, fiel ihr auch der Text wieder ein. »›Nur ein Veilchen pflückte ich von meiner Mutter Grab.‹« John hielt den Atem an; er schwitzte leicht. Eine jede Faser seines Körpers war bis zum Äußersten gespannt. Je weiter sie in ihrer Erzählung fortfuhr, desto mehr dürstete es sie nach ihm.
    »Ich sah rote Augen vor mir und hörte eine Stimme nach mir
rufen. Ich verließ den Weg, sie erwartete mich schon. Die Nacht war furchtbar kalt, und doch trug sie nur ein weißes Hemd. Ihre Haut schimmerte weiß im Mondlicht. Ihr …«
    Sie stockte. Sie sprach wie Mary Jane und nicht wie Lucy. Mary Jane, mahnte sie eine innere Stimme, sei vorsichtig …
    John stand auf, stieß sie sanft von sich und durchquerte das Zimmer. Er stützte sich auf ihren Waschtisch und sah in den Spiegel, als glaubte er dort etwas Verborgenes zu entdecken.
    Mary Jane war verwirrt. Ein Leben lang hatte sie den Männern gegeben, was sie von ihr verlangten. Nun war sie tot, und nichts hatte sich geändert. Sie trat hinter John und schlang die Arme um ihn. Bei ihrer Berührung fuhr er überrascht zusammen. Er hatte sie nicht kommen sehen.
    »John«, girrte sie, »komm ins Bett, John. Wärme mich.«
    Anders als zuvor stieß er sie grob von sich. Sie war sich ihrer vampirischen Kräfte nicht bewusst. Da sie noch immer ein schwaches Mädchen zu sein glaubte, war sie tatsächlich schwach.
    »Lucy«, sagte er tonlos, nicht an sie gewandt …
    Sie spürte Zorn in sich aufkeimen. Der jämmerliche Rest von Mary Jane, die sich in jenem dunklen Ozean verzweifelt über Wasser zu halten suchte, explodierte. »Ich bin nicht deine verfluchte Lucy Westenra«, schrie sie. »Ich bin Mary Jane Kelly, und dafür brauche ich mich nicht zu schämen.«
    »Nein«, sagte er, fasste in seine Jacke und griff fest zu, als er gefunden hatte, was er suchte, »du bist nicht Lucy …«
    Das Silbermesser steckte noch in seiner Tasche, als sie erkannte, wie töricht sie gewesen war, dies nicht früher schon bemerkt zu haben. Ihre Kehle schmerzte leicht. Wo er sie durchgeschnitten hatte.

53
    Jack ex machina
    A m Pult im Foyer saß eine warmblütige Oberin und verschlang begierig Thelma, das neueste Werk der Marie Corelli. Soviel Beauregard wusste, war die Prosa der gefeierten Schriftstellerin seit ihrer Verwandlung noch schlechter geworden. Nur wenige Vampire besaßen schöpferische Fähigkeiten, da sie all ihre Energie darauf verwandten, ihr untotes Leben zu verlängern.
    »Wo ist Mademoiselle Dieudonné?«
    »Sie vertritt den Direktor, Sir. Sie wird in Dr. Sewards Dienstzimmer sein. Soll ich Sie melden?«
    »Danke, nicht nötig.«
    Stirnrunzelnd fügte die Oberin der heimlichen Beschwerdeliste, auf der sie notierte, »Was mit dem Vampirmädchen alles nicht stimmt«, einen weiteren Punkt hinzu. Beauregard war einen Moment lang überrascht, Zeuge ihrer unverblümten, sauertöpfischen Gedanken geworden zu sein, stieß diese Überlegungen jedoch beiseite, als er die Treppe zum Direktorzimmer hinaufstieg. Die Tür stand offen. Geneviève war keineswegs erstaunt, ihn zu sehen. Sein Herz machte einen Satz, als er daran dachte, wie sie ganz nahe bei ihm gewesen war, an ihre weiße Haut und ihren roten Mund.
    »Charles«, sagte sie.
    Sie stand inmitten eines Durcheinanders von Papieren an Sewards Schreibtisch. Ihm war ein wenig unbehaglich zumute. Nach allem, was zwischen ihnen beiden vorgefallen war, wusste er nicht, wie er sich in ihrer Gegenwart verhalten sollte. Sollte er sie küssen? Da sie hinter dem Schreibtisch stand, konnte die Umarmung leicht linkisch ausfallen, es sei denn, sie käme ihm entgegen. Unstet sah er sich im Zimmer um, als eine Apparatur, die
sich zum Schutz vor Staub unter einer Glasglocke befand, seinen Blick fesselte. Sie bestand aus mehreren Messinggehäusen, an denen ein großes, trompetenähnliches Rohr befestigt war.
    »Das ist ein Edison-Bell-Phonograph, nicht wahr?«
    »Jack benutzt ihn für medizinische Aufzeichnungen. Er hat ein Faible für solch versponnene Spielereien.«
    Er wandte sich um. »Geneviève …«
    Plötzlich war sie nahe bei ihm. Er hatte nicht bemerkt, dass sie hinter dem Schreibtisch hervorgekommen war. Sie küsste ihn flüchtig auf die Lippen, und wieder

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