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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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Magen. Sie musste sich am Türrahmen festhalten, damit sie nicht in Ohnmacht fiel. Dies war beileibe nicht der erste Schauplatz eines Mordes, den sie zu Gesicht bekam; sie hatte blutgetränkte Schlachtfelder gesehen, Pesthäuser, Folterkammern, Hinrichtungsstätten. Doch nichts von alledem war so abscheulich wie Miller’s Court Nummer 13.

    Jack Seward kniete inmitten eines Trümmerhaufens, der kaum noch als menschliches Wesen zu erkennen war. Er arbeitete emsig vor sich hin; Schürze und Hemdsärmel des Doktors waren rot gefärbt. Sein Silberskalpell schimmerte im Flammenschein.
    Mary Kellys Zimmer war winzig: ein Bett, ein Stuhl und ein Kamin. Es gab kaum Platz, sich ungehindert darin zu bewegen. Jack hatte das Mädchen wüst seziert. Fleischfetzen lagen über Bett und Fußboden verstreut, und die Wände waren bis zu einer Höhe von drei Fuß mit Blut beschmiert. Die billigen Musselinvorhänge waren über und über mit Flecken von der Größe eines Halfpennys gesprenkelt. An der schmutzfleckigen Spiegelfläche klebten karmesinrote Spritzer. Auf dem Feuerrost brannte ein Kleiderbündel, und die rote Glut der Flammen versengte die nachtempfindlichen Augen Genevièves.
    Jack schien nicht allzu beunruhigt wegen ihres Eindringens.
    »Bin gleich fertig«, sagte er, während er aus den formlosen Überresten eines Gesichts vorsichtig etwas hervorzog. »Ich muss sichergehen, dass Lucy tot ist. Van Helsing meint, sie müsse wirklich tot sein, damit ihre Seele Ruhe finden kann.«
    Er sprach keineswegs hochfahrend, sondern vollkommen ruhig. Er verrichtete sein grausiges Geschäft mit chirurgischer Präzision. Er schien an nichts anderes zu denken.
    »So«, sagte Jack. »Sie ist entbunden. Gott hat Erbarmen.«
    Charles zog seinen Revolver hervor und legte an. Seine Hand zitterte. »Lassen Sie das Messer fallen, und treten Sie zurück«, befahl er.
    Jack legte das Messer auf die Bettdecke, stand auf und wischte sich die Hände an einem blutgetränkten Zipfel seiner Schürze ab.
    »Sehen Sie nur, wie friedlich sie daliegt«, sagte Jack. »Schlaf wohl, meine geliebte Lucy.«
    Mary Jane Kelly war wirklich tot, daran gab es für Geneviève nicht den geringsten Zweifel.

    »Es ist vorbei«, sagte Jack. »Wir haben ihn geschlagen. Wir haben den Grafen besiegt. Nun kann sich die Seuche nicht weiter ausbreiten.«
    Geneviève brachte kein Wort heraus. Ihr Magen ballte sich wie eine Faust. Jack blickte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal.
    »Lucy«, stieß er erschrocken hervor. Er sah nicht sie, nicht dieses Zimmer. »Lucy, ich habe es allein für dich getan …«
    Als er sich bückte, um sein Skalpell vom Boden aufzuheben, schoss Charles ihm in die Schulter. Jack wirbelte herum, griff mit den Fingern ins Leere und prallte gegen den Kaminsims. Er stemmte seine behandschuhte Hand gegen die Wand und sank mit eingeknickten Knien und geducktem Kopf zu Boden. An den Kamin gekauert, presste er die Finger auf seine Wunde. Die Kugel hatte seine Schulter glatt durchschlagen und ihm jegliche Mordlust geraubt.
    Geneviève nahm hastig das Skalpell vom Bett. Da die Silberklinge ihr Juckreiz verursachte, hielt sie es an dem emaillierten Griff. Unglaublich, wie viel Unheil ein solch winziges Messer anzurichten vermochte.
    »Wir müssen ihn von hier fortschaffen«, sagte Charles. »Der Pöbel würde ihn in Stücke reißen.«
    Geneviève half Jack auf die Beine. Sie und Charles nahmen ihn in ihre Mitte, und mit vereinten Kräften schleppten sie ihn zur Tür hinaus. Seine Kleider waren speckig von geronnenem Blut.
    Der Morgen nahte, und mit einem Mal überfiel Geneviève die Müdigkeit. Selbst die kalte Luft vermochte das Pochen in ihrem Kopf nicht zu vertreiben. Das Bild, das sich ihr in Miller’s Court Nummer 13 geboten hatte, war auf ihre Netzhaut gebannt wie eine Fotografie auf Papier. Sie würde den Anblick niemals mehr vergessen können, dessen war sie gewiss.
    Jack leistete keinen Widerstand. Er würde mit ihnen bis zur nächsten Polizeiwache kommen, wenn nicht gar bis in die Hölle.

56
    Lord Jack
    I n Mary Jane Kellys Zimmer war es drückend heiß gewesen; die Kühle des Gässchens wirkte ernüchternd. Sowie sie das Schlachthaus verlassen hatten, wurde Beauregard bewusst, dass, obgleich des Rätsels Lösung nun gefunden war, er sich in einem Dilemma befand. Die Frauen waren tot, Seward rettungslos dem Wahnsinn verfallen. Welcher Gerechtigkeit wäre gedient, wenn man ihn Inspektor Lestrade übergab? Wessen Interessen sollte Beauregard weiter

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