Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
Vom Netzwerk:
geflickten Einschusslöchern übersäten Rumpf. Sie kamen überein, dass die verhältnismäßig neue Maschine in annehmbarem Zustand sei. Obgleich der Diogenes-Club dem Geschwader Condor jedes gewünschte Flugzeug beschaffen konnte, hingen die Piloten sehr an ihren Mühlen.
    Um Gefühl in seine tauben Zehen zu befördern, stampfte Winthrop mit den Füßen. Es war stockdunkel. Das Flugzeug war ein riesiges Schattenskelett. Vampire fühlten sich bei Nacht so wohl wie er zur Mittagszeit auf der Pier in Brighton. Aufgrund ihrer angepassten Augen eigneten sich die Untoten zum Nachtflug, zum Nachtkampf. Ihretwegen war dies der erste Tag-und-Nacht-Krieg der Geschichte.
    Ginger versetzte dem Propeller der SE5a einen kräftigen Schwung. Doch der Hispano-Suiza-Motor sprang beim ersten Mal nicht an.
    »Ein bisschen mehr Schmackes«, sagte Bertie, einer der Kameraden.
    Wären die Vampire nicht gewesen (insbesondere der Rohling, der sich inzwischen Graf von Dracula zu nennen pflegte), so wäre es natürlich gar nicht erst zum Krieg gekommen. Der jüngste Versuch des Grafen, die Macht über Europa an sich zu reißen, hatte zu einem Konflikt geführt, der sämtliche Nationen auf dem Erdball in sich zu verwickeln schien. Selbst die Amerikaner waren eingetreten. Der Kaiser meinte, der moderne Deutsche verkörpere den Geist der alten Hunnen, doch tatsächlich war es Dracula, der, voller Stolz auf seine Blutsverwandtschaft mit dem Hunnenkönig
Attila, den Inbegriff der Barbarei des zwanzigsten Jahrhunderts darstellte.
    Ginger drehte ein zweites Mal an dem Propeller. Der Motor knurrte, und erstickte Beifallsrufe waren zu hören. Albright salutierte und sagte: »Bis Mitternacht.« Die Maschine rollte über holprigen Rasen, tauchte in den Schatten der Bäume und schwang sich in die Luft. Als ein Windstoß sie erfasste, wackelte sie leicht.
    »Wieso Mitternacht?«, erkundigte sich Winthrop.
    »Weil Red immer um Mitternacht zurückkommt«, sagte Bertie. »Er macht seine Sache schnell und gründlich und kehrt dann ins Quartier zurück. Deshalb nennen wir ihn Captain Midnight.«
    »Captain Midnight?«
    »Ja. Klingt albern, nicht?« Der Pilot grinste. »Bisher hat es ihm Glück gebracht. Red ist ein erstklassiger Pilot. Bis sie aufgelöst wurde, war er bei der Escadrille Lafayette. Er ist zu uns gekommen, weil die Yankees ihn als untauglich befunden haben. Das American Air Corps ist ausschließlich warmblütigen Männern vorbehalten.«
    Albrights Mühle verschwand in einer tief hängenden Wolkenbank. Das Brummen des Motors verschmolz mit dem Pfeifen des Windes und Musikfetzen aus dem Grammophon in der Bauernstube. Die »Arme Butterfly« wartete von neuem. Sergeant Dravot starrte gebannt in den Nachthimmel.
    Major Cundall sah nach seiner Uhr (einer jener neumodischen Apparate, die am Handgelenk getragen wurden, damit sie im Schützengraben nicht verlorengingen) und vermerkte die Startzeit in einem Logbuch. Winthrop warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Halb elf am Abend des 14. Februar 1918. Valentinstag. Daheim würde Catriona zu Recht voller Sorge an ihn denken.
    »Jetzt können wir nur noch warten«, sagte Cundall. »Kommen Sie rein und wärmen Sie sich auf.«

    Winthrop hatte gar nicht bemerkt, wie durchgefroren er war. Er schob die Uhr in seine Westentasche und folgte den Piloten zum Bauernhaus zurück.

2
Der Alte
    W ährend der gesamten Überfahrt sah Beauregard mit Unbehagen zu dem Verwundeten hinüber, der in einer Ecke der Kabine lag. Angesichts seiner Verfassung verhielt sich Captain Spenser ungewöhnlich ruhig.
    Als ein Bursche ihn gefunden hatte, war er eben im Begriff gewesen, sich einen fünften Nagel in den Kopf zu treiben. Offenbar hatte er seinen ganzen Schädel mit Eisendornen spicken wollen. Die Diagnose lautete auf nervliches Versagen, und Beauregard schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es vermutlich einer ruhigen Hand bedurfte, um sich solch einer Operation zu unterziehen.
    Beauregard machte sich Vorwürfe, weil er die Belastungen verkannt hatte, denen Spenser auf Geheiß des Diogenes-Clubs ausgesetzt gewesen war. Ein Mensch konnte durchaus zu viel wissen. Bisweilen wünschte Beauregard, auch sein Schädel würde sich öffnen und seine Geheimnisse entweichen lassen. Es wäre eine Wonne, unschuldig und unwissend zu sein.
    Nach vielen Jahren im Dienste des Diogenes-Clubs gehörte Beauregard nun, wie der ehrwürdige Mycroft und der exzentrische Smith-Cumming, der herrschenden Clique, dem höchsten Stab des Secret Service,

Weitere Kostenlose Bücher