Die Vampire
veränderte. Rasputin gelangte durch die Behauptung an die Macht, die rasende Werwolfswut, die den Zarewitsch befallen habe, lasse sich nur durch Zauberei kurieren. Doch der heilige Scharlatan war tot, von einem upyr -Fürsten in Stücke gerissen. Der Zar war von den bolsheviki eingekerkert worden. Erkenntnissen des Diogenes-Clubs zufolge, hatte Dracula höchstselbst dafür gesorgt, dass Lenin in seinem berühmten versiegelten Zug nach Russland hineingeschmuggelt werden konnte.
Nummer zehn war erneut umgestaltet worden. Die Empfangshalle beherbergte eine Galerie von Porträts, die von den bedeutendsten Künstlern der letzten drei Jahrzehnte stammten: Whistler, Hallward, Sickert, Jimson. Zum Leidwesen seiner Kabinettskollegen, denen alles suspekt erschien, was über ein idyllisches Landschaftsbild von Constable hinausging, bekannte Ruthven sich inzwischen voller Leidenschaft zum Vortizismus. Beauregard hielt vergeblich nach Gemälden Ausschau, die etwas anderes zum Thema hatten als den derzeitigen Premierminister. Das graue, sardonische Gesicht blickte mit kalten Augen von einem guten Dutzend Leinwänden herab. Ruthvens Selbstverliebtheit machte nicht einmal vor Werken halt, die ihn alles andere als vorteilhaft erscheinen ließen, wie Wyndham Lewis’ Schilderung seiner Besuche an der Front.
Im Juli des Jahres 1905 brachte die Romanow-Yacht Stella Polaris Dracula in die Bucht von Björkö vor der finnischen Küste. Per Ruderboot wurde er zur Hohenzollern, der eleganten weiß-goldenen Jacht eines seiner zahlreichen angeheirateten Großneffen, Kaiser Wilhelms II., weiterbefördert. Dem Diogenes-Club war es seinerzeit gelungen, die in der für Europas Königshäuser typischen, mit verwandtschaftlich-diplomatischem Schmelz überzuckerten Sprache gegenseitigen Misstrauens abgefassten Communiqués des Fürsten von Bülow, dem damaligen Reichskanzler des Kaisers, an Konstantin Pobedonoszew, einem engen Berater des Zaren, auf halbem Wege abzufangen. Der Kaiser war von dem Irrglauben beseelt, der dunkle Kuss werde seinen verwelkten Arm wieder erblühen lassen. Die Russen rührten die Trommel für Draculas Geblüt und verheimlichten den Zustand des dahinsiechenden Zarewitsch, um Willi dazu zu bewegen, die Last des früheren Prinzgemahls auf sich zu nehmen.
Beauregard trug sich in die Besucherliste ein und eilte über einen Korridor zum Kabinett. Mit silberbewehrten Piken bewaffnete
Karpater säumten den Flur. Kostaki, ein rehabilitierter Ältester, dessen Sturz während der Zeit des Schreckens mit einem vertrauensvollen Posten belohnt worden war, hob die Hand an seinen Helm, als Beauregard an ihm vorüberhastete.
Der Fürst, der sich nun Graf von Dracula zu nennen pflegte, hatte sich zu einer Zierde des kaiserlichen Hofes in Berlin gemausert. Mit großem Prunk und Pomp verwandelte er Wilhelm. Endlich konnte der Kaiser seinen verhassten Arm strecken und eine ordentliche Faust machen. Nichts hatte Willi sich sehnlicher gewünscht, als seine neu gewonnenen Finger in das Fleisch seiner monarchischen Widersacher zu bohren, sie ihrer Herrschaft über die Ozeane und diverser Gebiete im Osten und in Afrika, im Pazifik und in Asien zu berauben. Deutschland, sagte er, müsse ein einig Volk von Vampiren werden und seinen Platz im Mondschein finden.
Britische und französische Schriftsteller verfassten Romane nach dem Vorbild der Schlacht von Dorking und prophezeiten einen Krieg zwischen dem Deutschland Draculas und der zivilisierten Welt. In Vicomte Northcliffes Daily Mail erschienen derlei Räuberpistolen in Serie, und Die Invasion von 1910 bescherte ihrem Verfasser William Le Queux beachtlichen Erfolg. Bezahlte Strategen vertraten die Ansicht, die neuen Hunnen würden Blitzattacken auf isolierte Außenposten vorziehen. Da wenig Aussicht bestand, die Auflage der Mail in der Provinz zu erhöhen, verlangte Northcliffe, dass in der Geschichte die Invasion jeder größeren englischen Stadt vorkommen müsse. Die Einwohner von Norwich und Manchester verschlangen die schauerlichen Schilderungen ihres Schicksals unter der Belagerung untoter Ulanen. Beauregard dachte an die Plakatträger der Mail, die als Vorgeschmack auf die fiktive Besatzung in deutscher Uniform durch die Stadt stolziert waren.
Der Diogenes-Club erfuhr von den Bemühungen des Kaisers
auf dem Gebiet der Industrialisierung und Erweiterung der Seestreitkräfte, doch hatte diese Nachricht bedauerlicherweise wenig Einfluss auf Ruthvens Bemühungen um Galerie-Eröffnungen und
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