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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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an. Er hatte sein ganzes Leben im Verborgenen verbracht.

    Das Wasser des Kanals war ruhig. Beauregard plauderte mit Godfrey, einem Krankenträger, der den Quäkern angehörte. Er hatte den Sanitätsdienst dem Gefängnis vorgezogen und war für seine Tapferkeit in der Schlacht um den Vimy-Rücken mit einem Orden ausgezeichnet worden. In Beauregards Augen war ein Mann, der bereit war, für sein Vaterland zu sterben, nicht aber für es zu töten, ein besserer Mensch. Er trauerte um jeden, den er getötet hatte; und er trauerte um jenen kurzen Augenblick, in dem er sein Opfer hatte entkommen lassen. Um den Preis seines eigenen Lebens hätte er Graf Dracula ein Ende machen können. Je älter er wurde, desto öfter dachte er an jene qualvollen Sekunden.
    Am Newhaven Quay wurde die kleine Schar toll gewordener Offiziere bereits von Krankenschwestern erwartet. In der Gruppe waren die Männer ruhig und fügsam. Die Schwestern trieben sie sanft, aber bestimmt zusammen. Noch vor vier Jahren hatte die Armee hinter jedem Fall von Frontneurose einen erbärmlichen Feigling vermutet. Doch nach unzähligen mörderischen Kampfeinsätzen waren Zusammenbrüche in den Reihen der höheren Offiziere nachgerade de rigeur. Selbst der zweite Sohn des Herzogs von Denver befand sich unter dem heutigen Haufen von Dottyville-Patienten.
    Das Dock lag im Dunkeln. Deutsche U-Boote wurden im Kanal vermutet. Beauregard wünschte dem teilnahmslosen Spenser alles Gute, gab Godfrey seine Karte und überquerte dann den finsteren Bahnsteig, um den Schnellzug nach London zu nehmen.
    An der Victoria Station wurde er von Ashenden, einem jungen Burschen, der sich in der Schweiz als äußerst kaltblütig erwiesen hatte, in Empfang genommen und durch die dunkle Stadt chauffiert. Obgleich es regnete und kein Laternenschein die Straßen erhellte, waren allenthalben tatendurstige Nachtschwärmer zu sehen. Selbst im Herzen des Empires, das nur wenige Luftangriffe erlitten hatte, war der Krieg allgegenwärtig. Theater, Restaurants
und Kneipen (und zweifellos auch Lasterhöhlen und Bordelle) wimmelten von Soldaten, die verzweifelt zu vergessen suchten. Um jeden Uniformierten drängten sich Scharen begeisterter Männer, die danach gierten, »unseren Jungs« eine Lage auszugeben, und Trauben heißblütiger junger Frauen, die den verehrten Helden ihre Liebesgunst bezeigen wollten. Plakate drohten Drückebergern mit drakonischen Strafen. Glutäugige Vampirmädchen durchstreiften Piccadilly und Shaftesbury Avenue mit weißen Federn, um sie an ihre untoten Brüder zu verteilen, die nicht im Dienst des Königs standen. Im Hyde Park hatte man den originalgetreuen Nachbau eines Schützengrabens errichtet, um der Zivilbevölkerung einen Eindruck von den Bedingungen in Frankreich zu vermitteln; seine Reinlichkeit und die zahlreichen Vergünstigungen der Heimat entlockten den beurlaubten Frontkämpfern bestenfalls ein müdes Lächeln. In der Queen’s Hall dirigierte Thomas Beecham ein No German Concert. Bei der Auswahl von Stücken englischer, französischer und belgischer Komponisten hatte man auf die diabolische Kultur von Beethoven, Bach und Wagner ausdrücklich verzichtet. Das Scala Cinema zeigte Wochenschauen mit (größtenteils in den Shire Counties nachgestellten) Frontaufnahmen und Mary Pickford in Die kleine Fledermaus.
    Wären auf den Straßen Londons Lichtspiele gedreht worden, so hätten Tausende und Abertausende von Einzelheiten eine Stadt im Kriegszustand erkennen lassen, von der Verkehrspolizistin bis hin zur bewaffneten Schutzwache vor einem Fleischerladen. Einen Mann im vorgerückten Alter wie Beauregard gemahnten viele dieser Dinge an die Zeit des Schreckens vor dreißig Jahren, als Britannien unter dem Joch des damaligen Prinzgemahls gelitten hatte. Kommentatoren wie H. G. Wells und Edmund Gosse vertraten die Ansicht, der Weltkrieg sei die logische Folge einer versäumten Pflicht. Denn statt den Dämonenfürsten
auf einen seiner Pfähle zu hieven, hatten die Revolutionäre der neunziger Jahre Dracula gnädig des Landes verwiesen. Als König Victor im Jahre 1897 zum zweiten Mal den Thron bestieg, machte Lord Ruthven dem Blutvergießen ein Ende. Der Premierminister konnte das Parlament dazu bewegen, die Erbfolge zu bestätigen, was seinem früheren Gönner Dracula das Recht zu regieren versagte und einen neuerlichen Bürgerkrieg verhindern half.
    Der junge Ashenden zeigte sich nachsichtig gegen die Menschenmassen auf der Fahrbahn. Während sie bei laufendem

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