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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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Kleidung nicht so sehr geschämt, hätte Poe es zweifellos genossen, wie der Prahlhans von Minute zu Minute kleiner wurde.
    Ein junger Veteran, dessen zu einer Schnauze ausgestülptes Gesicht mit wundroten Narben übersät war, während sein verbrannter, zu einer Fledermausschwinge verkrümmter Arm nutzlos herunterbaumelte, kam mit einem Wagen voller Zeitungen herein, die er zum Verkauf anbot. Ein Oberst musste von der Titelseite erfahren, dass die geheimen Informationen, die er dem Oberkommando übermitteln sollte, inzwischen allgemein bekannt waren. Poe spielte mit dem Gedanken, sich eine Zeitung zu kaufen, als er bemerkte, dass er keinen Pfennig bei sich hatte.
    Ewers versuchte einen Schreiber davon zu überzeugen, dass seine Laufbahn eine fürchterliche Wende nehmen werde, wenn Dr. Mabuse erführe, dass man ihn, den großen Hanns Heinz Ewers, habe warten lassen. Er bedeutete dem Schreiber, auf ein Wort von ihm werde er unverzüglich an die Westfront abbestellt. Der Schreiber ließ ihn gewähren, doch es passierte nichts.
    Ewers war merkwürdigerweise der Einzige im Saal, der sich beschwerte. Der Feldmarschall wartete geduldig. Sehr deutsch. Jeder fügte sich in seinen Rang und seine Stellung. Alles überaus beruhigend, vorausgesetzt, man hatte einen Platz in der Pyramide. Wessen Stand sich nicht auf den ersten Blick an einem Schulterstück ablesen ließ, kam einem »unberührbaren« Inder gleich und wurde aus dem Kastensystem ausgeschlossen.
    Der Soldat unterdrückte ein Stöhnen und hielt sich mit beiden
Händen den Bauch, als bahnte sich ein Granatsplitter einen Weg durch seinen Leib. Poe hatte den Eindruck, dass ein schmales Blutrinnsal durch den Rock des Soldaten sickerte. Sein roter Durst erwachte, doch der abgelebte, schmutzige Soldat beleidigte sein Zartgefühl. Poe hätte wirklich ausgedörrt sein müssen, um sich von solch ärmlichem Fleisch zu nähren.
    Plötzlich war die Stimmung im Saal wie ausgewechselt, als habe jemand Rauch bemerkt. Die Bittsteller waren wie eine äsende Rotwildherde, die auf die Schritte eines Jägers lauscht. Säuselndes Geflüster wehte wie ein Windhauch durch den Raum, und Poe hörte nur einen Namen, immer wieder.
    »Dracula …«
    Zwei Wärter hielten die Haupttür auf. Eine üble Gesellschaft kam herein. Selbst Ewers blieb stehen und nahm Haltung an.
    »Dracula …«
    Graf von Dracula war der älteste Vampir Europas, ein meisterhafter Stratege und großer Visionär, Architekt des Sieges und Verteidiger der Rasse. Allein seinen kolossalen Ränken und Intrigen war es zu verdanken, dass sich die Seuche auf der ganzen Welt hatte ausbreiten können. Als angeheirateter Onkel Kaiser Wilhelms II. hatte er auf die Kriegsführung angeblich größeren Einfluss als Hindenburg oder Ludendorff.
    »Dracula …«
    Soldaten kamen mit klappernden Stiefeln und Brustharnischen in den Saal marschiert. Es waren Älteste, die der Karpatischen Garde des Grafen angehörten und seit Jahrhunderten an seiner Seite fochten. Sie brachten einen eisigen Gestank nach geronnenem Blut und Schießpulver mit sich.
    »Dracula …«
    Ermutigt durch die Billigung der Schlacht von St. Petersburg seitens des Grafen, die dieser zwar nie zurückgezogen hatte, von der heutzutage jedoch auch niemand mehr sprach, hatte Poe dem
Ältesten zu Beginn des Krieges mehrfach geschrieben. Eine Antwort war ihm nicht vergönnt gewesen.
    »Dracula …«
    Die Wiederholung des Namens glich einem Schrei, einem Gebet. Ein Adjutant wurde von einem Paar wütend knurrender Wölfe in den Saal gezerrt. Beim Anblick der Tiere fuhr Ewers erschrocken zusammen. Poe hatte gehört, bei den Wölfen handele es sich um Stellvertreter Draculas aus dessen warmblütigen Tagen, die er mittels seiner ungeheuren Kraft in treue Schutzgenossen verwandelt hatte.
    Ein hochgewachsener Vampir kam mit weiten Schritten durch die Flügeltür. Über seiner schlichten Uniform trug er einen grauen Mantel. Poe betrachtete das Lederholster an seinem Gürtel, die schwarze Mütze mit matt schimmerndem Schirm, die spitzen Enden seines Schnurrbarts. Während die meisten seiner Mitältesten ihrer Zeit verhaftet blieben, wandelte sich Dracula von Krieg zu Krieg. Während seine Generale die Strategie von Waterloo und Borodino empfohlen, setzte der Graf Maschinengewehre gegen Kavallerieattacken ein und befahl, Europa kreuz und quer mit Schützengräben zu durchziehen. Er war ein wahrhaftes Chamäleon, ein ausgezeichneter Pragmatiker.
    Eine Witwe fiel vor dem Grafen auf die Knie

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