Die Vampire
Schatten.«
Obgleich der Nachmittag bewölkt war, trug Poe eine getönte Brille mit Bügelklappen. Ein winziger Vogelschrei in der Ferne erschien ihm lauter als das nahe Tosen des Krieges. Für seine Ohren war das Schloss ein lebendiges Wesen aus ächzendem Stein und atmendem Holz.
»Er und ich sind grundverschieden«, sagte Lothar. »Auch als noch warmes Blut in seinen Adern floss, war Manfred kalt und gefühllos wie ein Fisch. Da ich mein - aller Voraussicht nach recht kurzes - Leben in den Dienst meines Vaterlandes gestellt habe, halte ich es für mein gutes Recht, meinen Gelüsten nachzugeben und meinen Trieben freien Lauf zu lassen. Als Dichter werden Sie verstehen, was ich meine. Aber ich bezweifle, dass Manfred je bei einer Frau gelegen hat, es sei denn, um sich von ihr zu nähren. Aber selbst zu diesem Zweck zieht er seine geliebten Hunde vor. Und seine gefallenen Widersacher.«
Lothar war das genaue Gegenteil seines Bruders. Er schilderte seine Heldentaten in bunten Farben und machte noch aus dem langweiligsten Aufklärungsflug eine der sieben Reisen Sindbads. Eher spielend als erzählend gab er in der Großen Halle packende Berichte seiner Luftgefechte zum Besten. Die anderen Flieger
hingen an seinen Lippen und verschlangen gierig jedes Wort, jede Wende seines Kampfes. Lothar von Richthofens Erinnerungen hätten sich ohne weiteres zu einer heroischen Autobiografie zusammenfügen lassen.
»Er ist ein guter Soldat«, gab Poe zu bedenken. »Er fliegt nach Vorschrift, kämpft nach Vorschrift …«
»Sie meinen die heiligen Dikta Oswald Boelckes?«, fragte Lothar stirnrunzelnd. »Manfred betrachtet sie als seine Bibel, als Anleitung zum Überleben, zum Sieg. Was seine soldatischen Fähigkeiten betrifft, da bin ich mir nicht so sicher. Ich fliege hart am Wind. Während ich mich immer wieder in die Nesseln setze, erfüllt Manfred seine Pflicht und tut nicht mehr als nötig. Aber ob er tatsächlich der bessere Soldat ist, wage ich zu bezweifeln.«
»Ich verstehe nicht recht.«
Lothar beobachtete einen Falken, der über einem Taubenschwarm seine Kreise zog. Ob er die Taktik des räuberischen Fliegers studierte?
»Fragen Sie Theo, ob Manfred ein guter Soldat ist. Diese Sache mit der RE8. Wissen Sie, was er getan hat?«
»Er hat den Piloten in der Luft aus der Maschine gerissen und ausgeblutet.«
»Und den Beobachter allein zurückgelassen. Der Mann hatte nicht die geringste Chance, das Flugzeug in seine Gewalt zu bekommen. Stellen Sie sich seine Panik, seine Angst vor, als die RE8 ins Trudeln geriet. Versuchen Sie seine Ohnmacht, seine Hilflosigkeit nachzuempfinden.«
Ein Gefühl, als ob man lebendig begraben worden sei. Poe hatte den Zustand längst beschrieben, als er ihn bei seiner Verwandlung erstmals am eigenen Leib erfahren hatte.
Die stinkende, qualvolle Enge ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Nein, das war ein weitaus langsamerer Tod. Mit dem Flugzeug
abzustürzen war wie in einer Totenkiste zu erwachen, die in den Ofen eines Krematoriums geschoben wird.
»Auf Manfred hatte die Angst dieses Mannes eine fast ebenso belebende Wirkung wie das Blut des Piloten. Er labt sich daran wie an den kriecherischen Schmeicheleien seiner Bewunderer. Insgeheim ist er entzückt, dass Sie seine Memoiren schreiben.«
»Ich hatte nicht den Eindruck.«
Lothar verzog den Mund zu einem wölfischen Grinsen. »Sie täuschen sich. Er kennt Sie, Poe. Wenn auch nur wegen der Schlacht von St. Petersburg. Die Wahl ist nicht umsonst auf Sie gefallen.«
Der Falke schlug eine der Tauben. Poe hörte das kleine Genick deutlich knacken. Eine Flut von Eindrücken brach über ihn herein. Leise Geräusche aus der ganzen Umgebung. Die Wellen, die ans Seeufer plätscherten. Schritte auf überfrorenem Rasen.
»Ja, der britische Beobachter kann unmöglich überlebt haben, aber im Krieg ist das Unmögliche an der Tagesordnung. Aus Sicherheitsgründen sollte man versuchen, seinen Gegner so oft wie möglich umzubringen. Es war seine Pflicht, den Beobachter zu töten. Es war der Hauptzweck dieser Mission. Doch statt ihn mit einem sauberen Schuss vom Himmel zu holen, machte Manfred sich einen Spaß daraus, ihn zu foltern. Sein Vergnügen, seine Befriedigung, seine Bilanz … all das war ihm wichtiger, als seinen Auftrag zu erfüllen. In diesem Fall könnte das für uns alle bittere Konsequenzen haben.«
»Das wird Helden sicher häufig vorgeworfen.«
»Auch ich bin ein Held, mein lieber Poe«, sagte Lothar und stemmte die Hände in die
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